Jahr für Jahr starten Hunderte Läufer beim Marathon des Sables, einem der härtesten Etappenrennen der Welt. Für mich war die Teilnahme ein Schlüsselerlebnis.
Er wolle mal so richtig ran, sagt mir der erfolgreiche Inhaber einer Werbeagentur ins Gesicht.
So richtig zeigen, was geht. Wir sitzen nebeneinander im Bus auf dem Weg in die Wüste. Unterwegs zum Start bei der „Mutter aller Wüstenläufe“. Auf rund 250 Kilometern, verteilt auf sechs Etappen, wollen wir einen Teil der südmarokkanischen Sahara durchqueren.
Auf dem Schoß haben wir schwere Rucksäcke. Sie sind bepackt mit dem Nötigsten für eine Woche, Essen inklusive. Überschwänglich berichtet mein Mitfahrer von langen Trainingseinheiten mit Steinen im Rucksack und wie viele Kilometer er trainiert hatte.
Ich beginne zu zweifeln, ob ich selbst genug getan habe und sage nicht viel. Am Tag der zweiten Etappe sehe ich ihn wieder. Er übergibt sich, torkelt ins Camp – und muss aufgeben. Die Hitze hatte ihm zu sehr zugesetzt.
Was bewegt so viele Menschen, sich ausgerechnet derart widrigen Bedingungen zu stellen?
Das sehnsüchtige Warten auf einen Startplatz
Patrick Bauer, der Begründer und Chef dieses legendären Rennens, lief in den frühen 80er-Jahren 350 Kilometer durch den Sand, über ausgetrocknete Salzseen und Felsen.
Die Strecke legte er in nur zwölf Tagen zurück, ganz allein übrigens.
Zwei Jahre später war die Idee eines eigenen Rennens geboren, das mittlerweile einen kometenhaften Aufstieg erlebt hat. Oft warten Anwärter jahrelang sehnsüchtig auf einen Startplatz.
Vielleicht weil es in unserer hochtechnisierten Welt diese Sehnsucht nach etwas Purem, Essenziellem gibt.
Das Streben nach Freiheit, das doch in vielen von uns verankert ist und nur noch entdeckt und freigesetzt werden will. Für manche geschieht das ausgerechnet in der Wüste, dem vermeintlich lebensfeindlichsten Raum.
Sie üben eine besondere Faszination auf viele Menschen aus, die Wüsten der Erde.
Magische Landschaften, warmes Licht, der Mix aus Schroffheit und Sanftheit. Es verwundert, dass dort überhaupt Leben möglich ist.
In der Wüste durchläufst du eine Gehirnwäsche
Ich erinnere mich mit ein wenig Wehmut an ein Paar sehr glücklich strahlender Kinderaugen in Marokko. Die eines Jungen, der um Essen bettelte. Bekleidet war er mit langer Hose und einem dunklen Pulli – der auch noch die Aufschrift „Anna“ auf dem Rücken trug.
Es war ein berührender Moment, denn in der Wüste durchläufst du eine Hirnwäsche: Du hast das Gefühl, dass dein gesamtes System so richtig durchgeschüttelt wird. Dort ist eine andere Art von Freiheit erlebbar.
Freiheit, die im Sein erlebbar ist.
Du beugst dich der Natur, gibst angesichts der gnadenlosen Hitze klein bei. Mit jedem Schritt versandet das Ego. Gleichzeitig wächst der Fokus auf das Wesentliche.
Sinnfragen kommen auf: Was mache ich hier? Wer bin ich?
In der Wüste wird man sich bewusst, wie klein man eigentlich ist. Aber auch, was man alles schaffen kann.
Vielleicht hat dich auch schon mal jemand in die Wüste schicken wollen – oder du wolltest selbst jemanden dorthin schicken. Doch was steckt eigentlich hinter dieser scheinbar lapidaren Aussage?
Geschichtlich betrachtet stammt sie aus dem Alten Testament: Ein mit Sünden beladener Bock, der uns bekannte Sündenbock, wird in die Wüste geschickt, er trägt die Schuld des jüdischen Volkes auf seinem Rücken.
Wer in die Wüste geschickt wird, wird vom meist lebensfreundlichen in den lebensfeindlichsten Bereich gewiesen.
Eine Flucht in die Superlative? Es ist nicht bekannt, ob Patrick Bauer damals in die Wüste geschickt wurde. Fakt ist, dass die Faszination seines Abenteuers bleibt.
Den Beweis, dass Leben, in der sengenden Hitze möglich sind, liefern jährlich die Teilnehmer des Marathon des Sables. Die Ausfallquote liegt im Schnitt bei nur zehn Prozent. Von lebensfeindlich keine Spur.
Wir Menschen sind anpassungsfähiger als wir glauben. Wir haben die Fähigkeit, über unsere Grenzen hinauszuwachsen. Die Wüste ist ein Grenzgang der anderen Art.
Einige meiner Freunde fanden die Idee, in solche Gefilde zu reisen, viel zu extrem, viel zu gefährlich. „Du bist doch Mutter und hast Verantwortung.“ Trotzdem ging ich unbeirrt meinen Weg und stand 2008 am Start in ein neues Kapitel meines Lebens, irgendwo im Nirgendwo.
Die Wüste, sie hinterlässt Spuren. Sie ist eine wahre Gehirnwäsche, für jeden auf eine andere, ganz eigene Art. Dabei ist es besonders erstaunlich, dass gerade der als „härtester Etappenlauf der Welt“ deklarierte Marathon des Sables eben auch jene fasziniert, die sportlich eher wenig ambitioniert sind.
Bei jeder Etappe trotten sie in langsamem Tempo vor dem letzten Kamel daher, dem „Besenkamel“. Ankommen heißt die Devise.
Weil es der Lauf in ein neues Leben ist, in dem nur man selbst die Richtung und das Tempo bestimmt.
Die Definition von Freiheit
Mit Freiheit verbinden wir oft Zeitfreiheit, finanzielle Freiheit oder einfach tun und lassen zu können, was wir wollen. Doch ist das wirklich Freiheit oder ist das Erleben und Erfahren eben dieser doch an Bedingungen geknüpft?
Meine Erfahrung in der Wüste war nur so möglich, weil ich bereit war, die Bedingungen zu erfüllen. Nicht Widerstand zu leisten gegen die Hitze, nicht gegen mich anzukämpfen, sondern mich darauf festzulegen, was ich erfüllen muss, um den Lauf zu schaffen.
Mein Tempo anpassen, beispielsweise, regelmässig trinken, kurze Pausen machen, meinen Nacken kühlen.
Doch in der Wüste fühlt sich so mancher erschlagen von der schier endlosen Weite, wenn am Horizont die Gluthitze flimmert und da sonst nichts ist. Nichts. Einige, ich erlebte es aus nächster Nähe, konnten nicht zum Start antreten.
Die Weite, die Schutzlosigkeit vor der unerbittlichen, heißen Sonne führte bereits vor dem Start zur ersten Etappe zu akuter Panik und Angstzuständen.
Der Rücken muss kiloweise Gepäck auf dem Rücken aushalten. Für eine Woche wird nur das mitgeschleppt, was einem lieb und teuer ist. Essen und etwas Wechselkleidung sowie einen warmen Schlafsack für die bitterkalten Nächte.
Man lernt, nur noch auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, schnell Entscheidungen zu treffen und zu improvisieren. Die Wüste ist eine einzigartige Möglichkeit, sich wieder mehr auf sich selbst einzulassen. Eine andere Art von Freiheit zu erfahren.
Dort, in der Weite der Wüste, geht es eben mal nicht um Dinge, die zwingend zu erledigen sind und um ständige Verpflichtungen. Man lässt los, lebt nur den Moment und entscheidet, was zu tun ist.
Der kurzzeitige Ausstieg aus dem Alltag kann ein Leben langfristig verändern.
Erlebnisse, wie man sie in der Wüste erfährt, mögen vielleicht flüchtig sein. Doch die Investition in sich selbst erfüllt auch mit großer Dankbarkeit – anders, als dies bei materiellen Dingen der Fall ist.
Das Umfeld profitiert von diesen extremen Erfahrungen. Gelassener und mit einer großen Portion innerer Ruhe lassen sich Herausforderungen im Alltag einfacher meistern, Schwung in Freundschaften bringen, auf die man sich bewusster, intensiver konzentriert.
Was ist mit dir?
Lass dich doch auch mal in die Wüste schicken. Oder wähle selbst, wie du für ein paar Tage oder Stunden aus dem Trott aussteigst, um deinen Rucksack des Lebens neu zu füllen, Altes hinter dir zu lassen und deinen Horizont zu erweitern.
Es muss ja nicht gleich der Marathon des Sables sein.
Wie definierst du Freiheit für dich? Wann hast du dich das letzte Mal so richtig frei gefühlt?
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