"Ein Zustand, in dem sich das Ego auflöst und die Zeit zu fliegen beginnt. Jede Handlung, jede Bewegung, jeder Gedanke folgt unausweichlich auf das Vorausgegangene. Das ganze Sein ist aufgesogen, und das Können auf die Spitze getrieben.“
So definiert der Psychologe Mihaly Csikszentmihaly den Zustand des Flow. (Quelle: All Mountain Magazin Ausgabe Winter 02/16, Seite 85 Lebenslänglich: Flow!)
Im Gegensatz dazu wird in der Läuferszene gern vom Runner´s High (zu deutsch: Läuferhoch) gesprochen. Jedoch ist die Theorie umstritten, denn Forscher konnten bislang noch keinen Zusammenhang zwischen exzessivem Sport und freigesetzten Endorphinen herstellen. Rauschzustände können demnach nicht als unmittelbare Auslöser für die Sportsucht gesehen werden. (Quelle: mdr lexi tv vom 11. April 2016)
Die Ausmaße des Strebens nach dem eigenen Ideal, eben auch der Illusion vom ultimativen Kick durch mehr Sport kann fatale Auswirkungen haben.
Gerade beim Laufen ist es schwer auszumachen, wann von Sucht und wann von echtem Vergnügen gesprochen werden kann. Ein erstes Anzeichen kann sein, dass es jeden Tag ein bisschen mehr sein muss. Der höhere Berg, das schnellere Tempo, der noch drangehängte Kilometer.
Kommt dir der ein oder andere Aspekt hier bekannt vor?
· Du verschiebst Termine oder erscheinst gar nicht zu Verabredungen
· Du flüchtest dich vor deinem Partner in Ausreden, Stress abbauen zu müssen
· Oft läufst du trotz Verletzungen weiter
· Du hast Schuldgefühle und das Laufen ist bereits zum Zwang geworden
· Freunde, Bekannte, Familie und Kollegen fragen besorgt nach deinem Befinden
· Du kannst dir nicht vorstellen, mal ein paar Tage nicht zu laufen
Die Grenzen sind oft fließend, wenn aus einer ursprünglichen Absicht, sich Gutes tun zu wollen, das Laufen zur Waffe gegen sich selbst wird.
Laufen gegen die Überzeugungen im Inneren, nicht gut genug zu sein, nicht schlank genug, nicht stark genug, nicht erfolgreich genug. Einfach nicht genug!
Der Zwang, sich selbst zu kontrollieren und im Griff haben zu müssen überwiegt. Doch nur im Flow-Zustand bist du wirklich frei. Und der fühlt sich in der Regel zwang-los an.
Bin ich nun schon süchtig, wenn ich fünfmal pro Woche trainiere, aus Spaß und Freude an der Bewegung?
Anfang 2000 fiel mir das Buch “Vom Junkie zum Ironman” von Andreas Niedrig, einer der besten deutschen Langstrecken-Triathleten, in die Hände. Schon sehr lange begeistern mich immer wieder wahre Geschichten von Menschen, die sportliche extreme Leistungen erbringen und sich von ganz unten, aus einem persönlichen Leiden heraus, nach oben trainiert und mehr als einmal gequält haben.
Ein verbreitetes Phänomen - vor allem unter Männern.
Geschichten, die polarisieren und immer aktuell bleiben. Wenn´s von der Nadel, der Flasche, dem Glimmstengel oder vom kompulsiven Essverhalten in die Laufschuhe geht. Andreas Niedrig gelang nach dem Ausstieg aus der Heroinsucht nach nur drei Monaten Training der Einstieg in eine andere Welt.
Er legte eine Marathonzeit in ausserirdischen - basierend auf seiner Vorgeschichte - 2 Stunden 43 Minuten hin. Seit einigen Jahren unterstützt er nach einer international erfolgreichen Triathlon-Karriere das Projekt “Traumwärts”, “welches Menschen auf emotionale Weise anregen und unterstützen soll, persönliche Träume und Ziele umzusetzen.” (Quelle: Website ww.andreas-niedrig.com)
Doch was verbirgt sich wirklich dahinter, wenn Menschen nicht mehr ohne können, ohne Laufschuhe und Dauertraining und es sogar in Kauf, sich zu verletzen?
Knapp 1% der Bevölkerung sind hierzulande von einer Sportsucht betroffen.
Gerade bei Läuferinnen ist die Tendenz groß, doch mal ein paar Pfunde schwinden zu lassen zu, beispielsweise nach Schwangerschaften. Der Erfolg des Trainings ist schnell sichtbar, es hagelt womöglich Komplimente aus dem Umfeld, die eigene Motivation ist angefeuert.
Jeder Gedanke kreist plötzlich ums Training. Nur noch einen Lauf , ab morgen ändere ich das.
Junkies geht es da nicht anders.
Ein letztes Mal und dann ändere ich alles. Bis der nächste Tag beginnt und das Spiel von vorne losgeht, die innere Stimme ruft: Ich muss. Ich kann nicht anders.
Je mehr ich laufe, umso mehr kann ich mich spüren, verbessern, mir beweisen, dass ich doch gut genug bin und damit das Gegenteil meiner inneren Überzeugung, eben nicht gut genug zu sein.
Schauen wir zurück auf den Ursprungsgedanken des Flow.
Wie gut fühlt es sich an, wenn ich mich aus freien Stücken bewege, meinen Körper spüre, die Umgebung geniessen kann, ohne jedes Mal an die Schmerzgrenze zu gehen und mich zu verausgaben?
Wenn ich mich nicht aufs Müssen fokussiere, sondern mich entscheide, es aus Freude zu tun und „ganz im Sein aufgesogen bin“. Dieser Zustand, wo Körper, Geist und Seele in Einklang sind ist jeden Schritt wert.
Versuch´s mal mit Gemächlichkeit und der langfristigen Absicht, deinen Sport auch im hohen Alter noch machen zu können, denn du bist gut genug, so wie du bist.
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Was ist deine Meinung zu diesem doch eher heiklen, wenig angesprochenem Thema? Warst oder bist du selbst von einer Art Laufsucht betroffen und tust dich schwer, dich und deinen Körper auch mal ausruhen zu lassen?
Teile gern deine Gedanken direkt hier in den Kommentaren oder schreibe mir persönlich eine Email an: anna@annachughes.com
Ich freue mich von dir zu lesen oder zu hören!
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