Oft machen wir uns selbst etwas vor. Und reden die Dinge schön. Im Grunde eine ganz normale Eigenschaft des Menschen, um sich selbst zu schützen und vielleicht manchmal auch der ein oder anderen Konfrontation mit dem Selbst, dem eigenen Verhalten aus dem Weg zu gehen.
Ich weiß rückblickend nicht mehr, wie sich alles so entwickelt hat, dass ich am Ende die Reißleine ziehen mußte.
Oft saß ich abends mürbe, müde und oft auch schlecht gelaunt auf dem Sofa, war leicht reizbar - und nein, nicht immer zurückzuführen auf PMS - und fühlte mich von morgens bis abends wie eine Getriebene, fremdbestimmt durch den kleinen Bildschirm meines iPhone 7 und der kleinen blauen sowie pink-gelb-lila-weißfarbenen App.
Sie wandelten sich in meiner Wahrnehmung von zunächst angenehmen, unterhaltsamen Freunden zu Feinden, deren Sogkraft dennoch lange noch so stark war, dass ich gar nicht bemerkte, wann das Faß überlief.
Aus der Angst, etwas zu verpassen (FOMO - Fear Of Missing Out, die Amerikaner sind ja großartig im Erfinden von aktuellen Konsumkrankheiten) meinte ich, mehrmals am Tag oder wenigstens einmal am Tag posten zu müssen.
Und hier kommt das Bizarre an der ganzen Geschichte: Das Wissen darum, dass wir ja frei wählen können, ob, wann und wie häufig wir einen Beitrag erstellen, reicht nicht. Sonst hätten wir ja einen entspannten Umgang mit den sozialen Medien. Dass das Gegenteil ist, liegt auf der Hand, wird aber noch gern ausgeblendet.
Wir lassen uns mitreißen in einen Strudel, der sich im Unterbewusstsein ausbreitet, bis wir glauben, dass wir ohne nicht mehr leben können. Das Gefühl, dass beim Klicken und Scrollen erzeugt wird, gleicht einem Fixer, der sich seine Dosis in die Vene spritzt, bis die erwünschte Dopamin-Ausschüttung erfolgt.
Da ist es wieder, dieses angenehme Gefühl, wenn der Kick durch die Venen rauscht.
Wissenschaftler ziehen tatsächlich diesen Vergleich heran. Willkommen in der Welt der Social Media Junkies.
Anstatt kurz innezuhalten, machen wir weiter, zücken das kleine Ding in den kürzesten Momenten des Wartens. In der Schlange im Supermarkt, in Bus und Bahn, im Flugzeug bis kurz vorm Start wird noch schnell ein letztes Mal gescannt, was X und Y gerade machen. Gelangen von Höckschen auf Stöckchen, bis wir in dieser aufgequollenen Informationsflut zu ersticken scheinen.
Merken nicht mehr, warum wir den nächsten Post erhaschen wollen. Geraten automatisch in eine Spirale, die abwärts dreht und uns das Hirn wäscht.
"Was hat sie/er, was ich nicht habe?"
"Hat sie/er eigentlich nie Probleme?"
"Warum lacht er/sie immer nur?"
"An die Zeiten werde ich nie heranlaufen."
Sicher kommt dir das ein oder andere Symptom der Vergleicheritis bekannt vor - eine weitere Stufe und Kennzeichnung der Sucht. Das Vergleichen hält uns am Laufen.
Lässt uns den nächsten Post ins unbegrenzte Social Media Universum absetzen. Können wollen, was andere schon längst imstande sind zu tun. Endlich Anerkennung bekommen. Endlich, ich bin beliebt, weil so viele meiner Freunde meinen Post mit einem Daumen oder Herzchen versehen.
Mein Herz, es hüpft auf und ab vor Freude, fühlt sich bestätigt, alles richtig zu machen. Und im nächsten Moment fällt das ganze, mühsam über Monate oder Jahre aufgebaute Konstrukt in sich zusammen.
Warum liked denn diesmal niemand mein Bild, bei dem ich versucht habe, mich extra gut in Szene zu setzen und dabei mindestens zehn Testaufnahmen im Selbstauslöser-Modus machen mußte, bis endlich das ideale Bild herauskam.
Willst du das wirklich?
Abhängig sein von diesen kleinen Apps, hinter denen sich eine unendliche Welt bietet, eine Scheinwelt, in der es oft gar nicht ums wahre Leben geht, sondern um kleinste Auszüge aus dem jeweiligen Leben? Die schönen Scheinmomente?
Diese Fragen habe ich mir im Spätsommer gestellt.
Ich war so ausgelaugt und wütend auf mich selbst, dass ich oft am liebsten mein Handy aus dem Fenster geworfen hätte. Noch ein letzter Fix und dann gehe ich weniger auf Facebook und Co. Und wenig später ging alles wieder weiter. Ich brauchte wieder und wieder meinen Stoff.
Momente einer vermeintlichen Langeweile sind mittlerweile schwieriger auszuhalten. Blickkontakt mit anderen Menschen wird eher peinlich. Wir entwickeln soziale Phobien. Menschen-Scheuheit durch social media etwa.
Was wäre, wenn wir in den Augen eines anderen Menschen echtes Interesse, Wohlwollen oder Freundlichkeit entdecken?
Was ist passiert, dass wir an diesem Punkt angelangt sind und der Strudel immer unaufhaltsamer wird? Wir uns einerseits präsentieren und andererseits eine gewisse Anonymität schätzen, denn eine verbale Ohrfeige von Angesicht zu Angesicht zu bekommen ist viel schmerzhafter als ein unfreundlicher Kommentar, der schnell wieder gelöscht werden kann.
Was muss passieren, dass wir uns wieder ohne den Drang, ständig zu checken, zu scrollen, zu posten und zu kommentieren, bewegen können?
Richtig frei und beschwingt durchs Leben laufen. So wie wir das draußen auf den Trails in den Bergen, im Wald, auf Feldwegen und Straßen tun?
So frei, dass uns gar nichts wirklich fehlt, wenn unsere Unterhaltungsprogramme nicht laufen.
Doch selbst bei diesen Läufen spielte mir mein Unterbewusstsein vermehrt Filme zu, welches Bild in welcher Pose ich noch schnell schießen müsse für den nächsten Beitrag. In aller Offenheit: Ich lief immer mehr fürs Äußere, für die visuelle Erzeugung des berühmten Läufer-Flow-Effekts.
Dabei bin ich weder Influencer mit 1 Millionen Followern, professionelle Läuferin noch stehe ich bei Werbepartnern unter Vertrag, unterliege also keinerlei Verpflichtung, Kleidung, Schuhe oder sonstiges Equipment möglichst spektakulär in Szene zu setzen.
Und dann kroch nach und nach die schonungslose Wahrheit an die Oberfläche, dass ich eine ganz normale (ok, manchmal etwas verrückt!) Frau bin. Ein weitestgehend normales Leben führe, Verantwortung für zwei Kinder habe, als Trainer und Coach arbeite, und vor ähnlichen Herausforderungen im Alltag stehe wie du auch, nämlich immer alles unter einen Hut zu bekommen.
Warum machte ich mich also so verrückt, geleitet vom drängenden Gefühl ständig "ON" sein zu müssen?
Wie könnte ich die Zeit besser in mein echtes Familienleben und Partnerschaft stecken? In meine beruflichen Pläne? Wieviel Zeit würde mir dann zur Verfügung stehen, wenn ich für eine Weile Social Media ignoriere?
Auch diese Fragen führten mich zu der schnellen Entscheidung, eine Pause zu machen. Und bemerkte erst, als es darum ging, wann ich aussteige, wie akut meine Abhängigkeit war. So einfach war das gar nicht. Hing doch ein ganzes Business an Facebook und Co. Wer sollte weiterhin die Postings machen, dass auch ja keine Kunden verloren gehen würden? Wer konnte das so gut wie ich, das richtige Bild zum richtigen Text wählen und umgekehrt?
Die Fakten, die mir mein Handy mittels der Bildschirmzeit-Funktion ausspuckte, schockierten mich. 3-5 Stunden täglich, unzählige Aktivierungen, manchmal nur für wenige Sekunden sprachen Bände.
Doch statt mich dafür zu peinigen, begann ich mit dem ersten Schritt. Legte das Datum fest und den Zeitraum der Entgiftung, mindestens 6 Wochen.
Ich war gänzlich in der dicken Masse versunken und drohte in dieser ungeheuren Informationsflut zu ersticken.
Doch Fokus führt zu Lösungen. Schnell war jemand gefunden, der die postings übernahm und Mitte November stieg ich endlich aus, begann von der Süße des Lebens zu schmecken, die mir teilweise abhanden gekommen war.
Atmete auf. Spürte Erleichterung vom Drang, mein Handy zur Hand zu nehmen. Mußte es viel weniger aufladen, vergaß nach etwa einer Woche sogar, es sofort nach dem Aufstehen zu checken.
Raum für mehr Kreativität und neue Ziele begann zu entstehen. Mein Glas, das sonst schon mittags leer war, blieb nun viel länger voll.
Die Gestaltung der Abende begann wieder Spaß zu machen. Die Laune fiel nicht graduell ab mittags in den Keller, sondern blieb oben. Kleine und größere Probleme des Alltags, beispielsweise ein überraschender Krankenhausaufenthalt meiner ältesten Tochter, konnte ich mit einer anderen Haltung meistern.
Was nicht heißt, dass immer alles einfach war.
Mein Geduldsfaden war einfach widerstandsfähiger, und ich verstand seit langem einmal wieder, was das berühmte "ganz im Moment sein" wirklich bedeutete. Nämlich genau das: Das Jetzt annehmen, mit Körper und Geist 100% bei der Sache zu sein, anstatt gedanklich bereits beim nächsten Post zu sein oder mich schnell wieder aus dem Jetzt ins Abseits zu beamen.
Denn auch das dämmerte mir nach und nach: Mit meinem Verhalten auf Social Media lenkte ich mich mehr ab, als mir gut tat und sabotierte mich im Weiterkommen meiner realen Pläne. Ständig redete ich mir ein, keine Zeit zu haben, an Projekten im echten Leben mit Herzblut zu arbeiten.
Ich hatte mich in den letzten Monaten, gar Jahren, mit jeder Sekunde, Minute und Stunde auf Facebook und Instagram um den Fokus auf meine realen Pläne gebracht. Hatte eine Ausrede, etwas nicht zu beginnen oder gar weiterzumachen. Immer mehr dieser aha-Momente tauchten auf.
Nach und nach verbesserte sich auch die Qualität meines Trainings, da ich mehr Verbindung zu mir spürte, indem meine Gedanken nicht mehr um den nächsten Post und das nächste Bild dafür kreisten, sondern ich mich bewußter auf die Laufform, Schrittfrequenz, den Untergrund und Flow konzentrieren konnte.
Es waren nicht die ganz großen, lebensverändernden Dinge, die passierten. Es kehrte insgesamt eine wohlige, innere Ruhe ein. Es gelang mehr, wieder mehr auf die Bedürfnisse meiner Liebsten einzugehen und wichtige Freundschaften intensiver zu pflegen. Endlich war jetzt mehr als genug Zeit dafür da!
Und zu meiner großen Überraschung vermisste ich nichts. Ab und zu überlegte ich mir, was wohl X oder Y wieder Spannendes oder Interessantes erlebt hatte. Bemerkte wieder den inneren Drang, nachzuschauen, doch hielt es aus. Ließ den Gedanken weiterziehen.
Alles geht vorbei. Die kleinen Entzugserscheinungen am Anfang der Entgiftung genauso wie der Gedanke, etwas zu verpassen. Ich spürte, dass wieder klareres Blut durch meine Venen floß.
Wie viel Zeit deines Lebens verwendest du auf die wirklichen Freuden deines Lebens? Und wie viel Zeit geht drauf fürs Nacheifern, Gieren nach Social Media?
Stelle dich unverblümt deiner Wahrheit, wann du dich richtig frei fühlst? Was machst du aus Angewohnheit? Was ist etwas Neues, was du ausprobieren möchtest?
Lauf´ dich wieder frei vom Rausch. Die Droge namens Social Media ist auch später noch frei auf dem Markt erhältlich und wird so schnell nicht verschwinden.
Du hast Zeit, richtig viel Zeit sogar. Nimm´ sie dir und erfülle dir endlich einen Wunsch (oder zwei, oder drei!), ganz unabgelenkt und nur für dich. Sammle Momente nur für dich und hüte sie wie einen Schatz. Denn erst wenn deine Truhe voll ist, kannst du abgeben und verschenken, dich um andere kümmern.
Echte Menschen, die Teil deines Lebens sind.
Schenke dir eine Dosis mehr frische Luft zum Atmen und auch für Leere, die nicht unbedingt gefüllt werden muss. Denn erst, wenn sich das Dickicht etwas lichtet, kannst du klarer den Weg vor dir sehen.
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