Es fällt mir immer noch schwer, das Erlebte des 100 km Laufes im Monte Rosa, dem UTMR, in Worte zu fassen. So viele Höhen und Tiefen, schöne und unschöne Momente, Zweifel und Glauben, Hoffnung und Vertrauen, haben diese knapp über 23 Stunden im Hochgebirge geprägt. Ein Lauf wie kein anderer. Ein Tag und eine Nacht in den Bergen.
Generell laufe ich nie denselben Lauf zweimal. Dazu gibt es einfach zu viele Läufe, aus denen man wählen kann. Dieses Jahr fiel meine Wahl auf die Tour im Monte Rosa. Dass das kein Zuckerschlecken werden würde, war mir klar. Doch gerade Herausforderungen wie diese machen es für mich aus.
Niemand zwingt mich dahin zu fahren und hunderte Euro für ein Bergvergnügen und Anstrengung auszugeben. Es ist die freie Wahl, meine Entscheidung. Auch gibt es an sich nix zu beweisen, weder mir noch anderen. Schon lange reizen mich die langen Strecken, eben Ultras, wo so viel passieren kann und passiert und eben nicht alles planbar ist.
Wo Flexibilität, Zähigkeit, Willensstärke, Fitness, Kraft und Ausdauer gefragt sind. Nicht selten gelingt es, die Essenz aus diesen intensiven Erfahrungen in den Bergen auf mein Leben zu übertragen.
Auch möchte ich meinen Kindern ein Vorbild sein, indem ich ihnen vorlebe, an den Dingen dranzubleiben und nicht gleich im ersten Moment, wo etwas nicht nach Plan läuft, das Handtuch zu werfen.
Und auch in Momenten, wo man aufgeben möchte, sich doch nochmal einen Ruck zu geben und weiterzumachen. So wie sie es auch in ihrem noch jungen Leben bei Hobbies und in der Schule erfahren.
Es ist mein Weg, nicht der eine Weg, den ich hier beschreibe. Ultralaufen hat sich für mich zu einer Form des Selbstausdrucks entwickelt. Ich bin ganz ich, wenn ich laufe, schwitze, ausser Atem komme, mich in mir und meiner Haut wohlfühle.
Ich habe nie etwas Spezielles oder gar Großes auf den langen Strecken gesucht. Eines Tages, 2008 habe ich angefangen, aus Neugier eine längere Strecke zu laufen, kam von der Wüste auf die Trails. Und habe gerade vielleicht im Nicht-suchen viel über mich herausgefunden.
Wie weit kann ich mich pushen? Was kann ich tun, wenn ich vermeintlich nicht mehr kann?
Das kann man nirgends lernen oder sich auf alle Situationen vorbereiten, die möglicherweise bei einem 100er und auf anderen Ultradistanzen passieren können. Aber man kann sich auseinandersetzen damit, was zu tun wäre, wenn eine Situation eintritt, mit der man nicht gerechnet hatte.
So sollte mein Coach Thomas, der mich über vier Monate bei der ganz spezifischen Vorbereitung begleitete, Recht haben, als er wenige Tage vorm Start am Telefon sagte: “Erwarte das Unerwartete!”
Laufen ist für mich wie die Luft zu atmen. Ich liebe die rhythmische Bewegung beim Laufen und das gibt mir ein Gefühl von Freiheit, Kontrolle, Dynamik, Weiterkommen.
Dann gibt es noch den Wettkampf-Aspekt bei Ultraläufen. Ich bin von Natur aus ein ehrgeiziger Mensch und liebe es, mich mit anderen zu messen. Das bedeutet nicht, sich unbedingt als verbitterte Konkurrenten gegenüberzustehen, sondern sich gegenseitig, im Miteinander zu Höchstformen zu bringen. So sollte es auch im letzten Drittel des UTMR sein.
Das Besondere an diesem Lauf ist, dass ihn ausgerechnet die wunderbare und inspirierende Lizzy Hawker, 5-fache Gewinnerin des legendären 100-Meilen Laufs UTMB (Ultra Trail Mont Blanc) ins Leben gerufen hat.
Seit fast zehn Jahren folge ich ihrem Weg auf ihrem Blog und über social media. Sie hat eine besondere Aura von Demut, Respekt, Würde, innerer Ruhe und Stärke, und gründete den UTMR, weil sie anderen Läufern eine Möglichkeit bieten möchte, auf den Strecken zu laufen, auf denen sie sich am liebsten für ihre großen Wettkämpfe vorbereitet hat. So gibt es neben den 100 km auch einen 100 Meiler und ein 4-Tage-Etappenrennen.
Anfang Mai erhielt ich einen Newsletter mit der Info zur Anmeldung. Ich wusste mit meinem Herzen, da will ich hin und laufen. Und damit stand mein Jahresziel fest. Bei der Vor-Registrierung sind Nachweise erforderlich, die belegen, dass man qualifiziert für diesen Lauf ist. Man schickt eine Bewerbung an die Organisatoren und bekommt dann gegebenenfalls das OK.
Nach Erhalt der Bestätigung stand ich zunächst vor der Frage: Wie bereite ich mich am besten darauf vor? Ich fühlte mich einerseits recht fit und andererseits dachte ich: Wenn du da wirklich gut durchkommen willst, solltest du dir vielleicht professionelle Unterstützung holen.
Seit dem Chiemgauer und Transalpine plagten mich immer Zweifel und Unsicherheiten, ob meine Bänder und Muskeln das alles mitmachen würden. Und ich merkte, dass ich auf der Stelle trampelte. Weder verschlechterte ich noch verbesserte ich mich.
So gelingt es mir zwar, meine Kunden so zu trainieren, dass sie ihre Ergebnisse erreichen, aber mir selbst bin ich vielleicht nicht der ideale Coach. Anstatt das als Schwäche vor mir selbst zu bewerten, sah ich in der Arbeit mit einem eigenen Coach die Möglichkeit, mich weiterzuentwickeln, andere Trainingsaspekte kennenzulernen und neue Erfahrungen zu machen. Diese könnte ich dann durchaus auch in der Arbeit mit meinem Kunden anwenden.
Eines Tages im Mai traf ich mich mit Thomas, der auf der Bahn ein Training absolvierte und ich mich für ein paar Runden noch etwas erkältet an ihn dran hängte. Ich fühlte mich wieder an meine alten Leichtathletletikzeiten auf der Mittelstrecke zurückerinnert.
Ein Funke sprang über. Ich wollte mich wieder voll als Athletin fühlen und mich nicht länger verstecken hinter der Absicht, “nur” Genußläuferin zu sein. Ich wollte damit auch meiner Angst, zu versagen, ein Schnippchen schlagen.
Nach einem Wanderwochenende mit meinen Kindern ein paar Tage später stiegen wir direkt ins Training ein. In einer Podcast-Folge haben wir die Essenz des Trainings zusammengefasst und einen Einblick in die letzten Wochen gegeben.
Nun stand ich also am zweiten Septemberwochenende am Start der 100 km in dem kleinen Ort Gressoney-La-Trinite in Italien. Wenige Tage zuvor war ich mit einer Freundin zwei Etappen des Trans Alpine von Garmisch über Nassereith nach Imst gelaufen und spürte die knapp 4000 Höhenmeter und 70 km sicher noch etwas in den Beinen.
Auch wenn es für mich keine Strapaze gewesen war und eher ein lockeres Tempo und Berggehen, so war es ein Experiment, wie ich vier Tage später die 100 km packen würde. Immerhin war der Freundinnen-Lauf zuerst gebucht gewesen und ich musste also für mein 100 km-Projekt frei gewählt in die Vollen gehen. Alles oder nichts. Finishen oder eingehen.
Mein Peter war zu diesem Zeitpunkt bereits mit seinen Söhnen in Kroatien. Eine Reise, die schon seit Anfang des Jahres gebucht war. Meine Kinder wiederum verbrachten noch eine Woche ihrer Sommerferien bei ihrem Papa.
Somit stellte sich mir vorab die Frage, ob und wer mich ins Monte Rosa begleiten könnte. Meiner Mutter teilte ich mein Vorhaben erst etwas später mit und spontan bot sie an, mich zu supporten, was für sie komplettes Neuland sein würde.
Ich haderte nach der ersten Begeisterung ihres Vorschlags etwas, war ich mir doch unsicher, ob das wirklich ihr Ding sei, mich in einem anderen Zustand als sie es kennt, zu erleben. Und selbst Stunden durch die Gegend kurven zu müssen, um zu zwei Verpflegungsstellen zu kommen.
Mein Herz entschied sich dafür und so brachen wir am Vortag des Starts zur 4-tägigen Reise auf, genossen die entspannte Fahrt durch Österreich und schließlich Italien mit einigen Stopps an schäbigen Raststätten in Italien, wo der Kaffee am leckersten schmeckte und ich über den Tag verteilt meine Speicher mit Semmeln, Reis und vorgekochten Kartoffeln auffüllte.
Abends kamen wir bei Nebel, Kälte und Regen im leicht auswärts von Gressoney gelegenen Hotel an. Der Empfang durch den Wirt war besonders zuvorkommend, so einladend, wie man es sich in Deutschland mancherorts nur wünschen kann.
Die Zimmer waren im typischen alpinen, jedoch zurückgehaltenen und wenig überladenen Stil eingerichtet. Der Blick vom Zimmerfenster bot eine Vorahnung auf die im Nebel verschleierten Berge, von denen es am nächsten Tag einen Teil zu erklimmen galt.
Nach dem Abendessen machten wir einen Spaziergang durch den Ort und stießen dabei auf einen Fotografen, der sich auf einem Feldweg positioniert hatte und wohl eine lange Schicht vor sich hatte. Genau an dieser Stelle liefen alle 100-Meilen Läufer vorbei. Im Livetracking sah er, dass in wenigen Minuten ein paar Läufer vorbei kommen würden.
So warteten wir, bis in der Dämmerung aus dem Waldstück ein Engländer gleichmäßigen Schrittes immer näher kam. “Keep going” rief ich ihm zu und wir verschwanden mit ihm für ein paar Minuten in der Halle, wo sich die Läufer aufwärmen und stärken konnten und auch am nächsten Morgen die Registrierung für die 100 km stattfinden würde.
Ich beobachte bewundernd die Gesichter der Läufer und fragte mich, wie man in diesem Gelände noch mal 70 km länger laufen kann. Zwei Nächte und 5000 Höhenmeter mehr.
“Kannst du es denken, kannst du es in den Händen halten” lautet eine weise Aussage von Bob Proctor. Ich hoffte, dass sich dies auch für mein Rennen bewahrheiten würde.
ln der gemütlichen Stube ließen wir den Tag ausklingen und trafen auf einen brasilianischen Läufer und seine Frau. Er war auch für die 100 km angemeldet und seine Frau entschied sich spontan, mit meiner Mutter zu den VP´s zu fahren.
In dieser Nacht konnte ich immerhin ein paar Stunden schlafen. Die Aufregung stieg dennoch nach dem Aufwachen mit jeder Stunde, wo ich normalerweise immer ruhiger werde, je näher der Start rückt. Der Blick aus dem Fenster verhieß Gutes, denn die Sonne schien und mit jeder Stunde stiegen auch die Temperaturen an.
Zum Frühstück schob ich mir löffelweise und mühsam meinen Milchreis in den Mund und aß noch ein Croissant mit Marmelade. Dem leckeren Früchtebuffet mit all den anderen Leckereien widerstand ich. Mir war ohnehin etwas schlecht.
Noch vier Stunden bis zum Start. Ich meditierte etwas und spürte meinen Herzschlag. Es gelang mir einfach nicht wie sonst, meine Atmung ruhiger zu stellen. Vielleicht lag die Krux gerade darin, es erzwingen zu wollen.
Somit notierte ich in meinem Tagebuch bestärkende Sätze und meine Absicht, diesen Lauf gut und gesund zu finishen. Aufgeregtheit hin oder her, ich akzeptiere meinen kleinen, inneren Ausnahmezustand und notierte auch eine Zeit von 16 Stunden in meinem Buch.
Selbst 18 Stunden wären in diesem Terrain noch machbar. Die Fitness war definitiv da, jetzt mußte noch die Ernährung unterwegs gut funktionieren und der Kopf mitspielen.
Eine gefühlte Ewigkeit ordnete ich meine Kleidung, Tailwind, Riegel und sonstige Ausrüstung. Nach der Kontrolle und Abholung der Unterlagen ruhte ich mich noch ein wenig auf dem bequemen Bett aus. Mir war kalt trotz der drei Schichten Kleidung und Cashmere-Socken an den Füßen.
Ich war richtig aus dem Häuschen und bannte darauf, dass es endlich losging. Zu viel Zeit zum Nachdenken und Grübeln blieb mir.
Meine Mutter half mir bei den letzten Vorbereitungen und fuhr mich zum Start. Auf dem kleinen Platz im Ortskern waren bereits andere Läufer versammelt. Wir fanden heraus, dass sich der Start um eine Stunde verzögerte, da der Shuttlebus mit den restlichen Startern, die aus Grächen, dem Zielort, kamen, eine Panne hatte.
Plötzlich setzte ein kleiner Regenschauer ein und meine Ungeduld stieg mit jeder Minute. Es sollte endlich losgehen, was es dann um 15 Uhr auch tat. Eine letzte Umarmung meiner Mutter, ein kurzes Umschauen im Starterfeld und los ging´s. Ich hatte mir vorgenommen, langsam anzugehen. Die Beine fühlten sich ganz ok und frisch an.
Bereits nach wenigen Minuten führte der Weg aus Gressoney auf einen Feldweg Richtung erstem Pass, dem Passo Salati. Durch Matsche und über viele Wurzeln und Steine ging es stetig berghoch. Ich öffnete meine Stöcke und blieb zunächst in meinem Rhythmus.
Das Tempo schien mir etwas hoch und ich schaltete einen Gang zurück in Anbetracht der Tatsache, dass es ohnehin ein sehr langer Tag werden würde. Ich sah etwas vor mir eine andere Deutsche laufen, die wie ich auch für Salomon Workshops veranstaltet. Sie wirkte angestrengt und auf Kraft zu laufen.
Um mich herum war es für einen Ultra außergewöhnlich schweigsam und angespannt. Es war eine feine Energie, die ich wahrnahm, auch an mir. Was würde noch alles kommen und dann stand auch noch das Laufen in der Nacht bevor.
Zehn Tage zuvor hatte ich eine Nacht in der Höhe verbracht und in einem kleinen Schuppen übernachtet, was eine etwas gruselige Erfahrung vor allem für den Kopf gewesen war. Ich fühlte mich vorbereitet auf die Nacht, denn die Chancen stehen hoch, stundenlang niemanden zu sehen, da sich das relativ überschaubare Starterfeld auf die dazu lange Distanz schnell auseinander ziehen würde.
Ich folgte der kleinen Gruppe vor mir und versuchte mich zu entspannen, nahm ein paar Schlucke aus meiner mit Tailwind-Iso gefüllten Flasche, dazu ein paar Schlucke Wasser. Der Plan war, etwa alle 20 Minuten etwas Tailwind und dazu Wasser zu trinken, so dass ich auf ca. 600-700 ml Flüssigkeit und über 70 g Kohlenhydrate pro Stunde käme. So der Plan für die ersten Stunden.
Plötzlich stand am Rand eine andere Läuferin und packte ihre Laufweste um. Sie wirkte etwas hektisch und ich versuchte zu differenzieren, wer im Frauenfeld vorne mitspielen würde. Der lange Tag hatte begonnen und meine Stärke liegt normalerweise im letzten Viertel eines Ultras.
Immer wieder blendet einen vorm Start der Anblick der anderen Starter. Klar schaute ich mich auch um, wer trägt was, sieht durchtrainiert aus oder nicht? Und besann mich immer mehr auf meinen Rhythmus. Ich war nicht angetreten, um mit Ach und Krach kurz vorm Cut-Off zu finishen, sondern wollte für mich das Beste geben und wußte, dass dies an einem guten Tag für einen vorderen Platz bedeuten könnte.
Bald begann auch schon der Anstieg auf den ersten Pass, insgesamt erstreckten sich über 1300 Höhenmeter auf eine Distanz von 10 Kilometern.
Ich versuchte in der Vorbereitung einen Vergleich anzustellen mit Routen, die ich von zu Hause kenne und mir auszumalen, wie sich der erste Pass anfühlen würde und in welcher Zeit ich das bewerkstelligen könne.
Doch das umzusetzen stellte sich schnell als Ding der Unmöglichkeit heraus. Ich verwarf alle Vergleiche, um mich an einem Zipfel Sicherheit festzuhalten und schaute nach vorn. Bewegte mich immer mehr im Moment, drosselte das Tempo wieder leicht und wurde von der Engländerin überholte, die weiter unten im Wald stehen geblieben war.
Und schloss kurz darauf auf eine in der Schweiz lebende Australierin auf, wie sich durch ein paar Worte, die wir spontan wechselten, herausstellte.
Noch blieb ich ihr dicht auf den Fersen und merkte, wie sich mein Puls beruhigte. Plötzlich überholte uns eine grazil wirkende Läuferin, die ich später völlig unerwartet wieder treffen würde.
Schnellen Schrittes und mit einer anmutig wirkenden Leichtigkeit marschierte sie ohne Stöcke die Serpentinen auf dem teils sehr steinigen Pfad hinauf hoch und schloss bald auf eine Männergruppe auf. Ich bemühte mich nicht, dranzubleiben, sondern blieb bei mir. Langsam fand ich in mein Rennen, meinem Rhythmus und es gelang mir, den Fokus auf mich zu richten.
Was brauchte ich jetzt? Wie hörte sich die Atmung an? War ich leichtfüßig oder auf Kraft unterwegs? Wie aufrecht hielt ich meinen Oberkörper? War schon wieder Zeit zum Trinken?
Immer wieder machte ich kleine Anpassungen, überholte die Australierin und sah schließlich die Deutsche nicht weit vor mir gehend. Sie schien immer noch voll auf Kraft zu laufen und blieb abrupt stehen, schaute sich um und kramte in ihrem Rucksack. Schnell ging sie weiter.
Die Ausblicke in die Landschaft waren atemberaubend, große Felsformationen türmten sich ringsherum und besonders die Weite faszinierte mich. Mich überkam ein Gefühl der Freiheit. Und realisierte, dass ich diesen Lauf zu meiner eigenen Reise machen musste. Ich wollte heil und gesund in Grächen ankommen.
Der Abend nahte und schließlich weitete sich die Landschaft. Die Temperaturen fielen stetig. Überall waren Gondeln zu sehen, die vermuten ließen, was hier im Winter wohl für Hochbetrieb sein mußte. Die Leere und Stille waren beinah beängstigend.
Bei km 15, am Gabiet, der Gondelstation, befand sich der erste Verpflegungspunkt. Ich überlegte Cola zu trinken, merkte aber, dass sich mein Magen komisch anfühlte. Mir war nicht schlecht noch meinte ich, Durchfall zu bekommen. Es fühlte sich an, als sei der Magen einfach voll.
Ich bekam ein paar Schlucke Tailwind und Wasser herunter, Energie hatte ich noch und verschwendete keine Zeit. Lief weiter und überlegte, ein Stück Riegel zu essen, um den Magen etwas zu setzen. Aber der Gedanken machte mir Unmut und ich lief weiter, ohne zu essen.
Nach etwa 200 m, noch bevor ein längerer Downhill begann, zog ich meine dünne Windjacke an und genoß den gut laufbaren Untergrund. Der schmale, steinige Trail mündete bald in einen Schotterweg und bis zum zweiten Verpflegungspunkt, dem Passo Salati, konnte ich es förmlich rollen lassen.
Wieder stoppte ich nur kurz, füllte meine Flaschen auf mit Wasser und kippte ein Tütchen Tailwind in eine Flasche. Von einer Helferin ließ ich mir Cola in meinen Becher füllen, klippte diesen am Karabiner wieder an die Laufweste und machte mich auf zum nächsten, kürzeren Anstieg, bevor es etwa 10 km nur bergab ging.
Zwischendurch bot sich ein sehr schöner Trail an, so wie ich sie am liebsten mag, schmal, erdig, mit ein paar Steinen und direkt am Berg entlang. Es begann langsam zu dämmern, kurz zückte ich mein Handy und nahm ein Video auf. In der Ferne sah ich zu meiner Überraschung die junge Australierin auftauchen, die stehenblieb und sich ihr Knie hielt.
Wenige Minuten später hatte ich auf sie aufgeschlossen und erkundigte mich, wie es ihr ging. Sie klagte über Knieschmerzen und verneinte meine Nachfrage, ob sie etwas brauche und sauste davon.
Mein Tempo fühlte sich richtig an, ich kam voran ohne zu rasen. Ich merkte, wie sehr sich das Training auszahlte, denn ich erholte mich nach jedem Anstieg schnell wieder. Ich lief ohne Puls und Stoppuhr. Meine Uhr zeigte lediglich die Uhrzeit an, um etwas Orientierung und einen Überblick zu haben.
Nach einer recht steilen downhill Passage, auf der der Weg immer enger und grasiger wurde, sah ich das kleine Städtchen Alagna aufblitzen. Der Weg ging in eine Art Forstweg über, ich drehte mich um und sah die Deutsche, die ich relativ früh überholt hatte, auf mich aufschließen.
Mit einem kurzen “Hallo” lief sie vorbei. Es war, als hätte jemand eine Rakete gezündet. Das war nicht dieselbe Läuferin, die ich bereits auf den ersten Kilometern gesehen hatte.
Ich folgte dem Weg und den Markierungen durch den Wald und angelangt in der Zivilisation füllte ich an einem Brunnen für einige Minuten meine Flaschen auf. Aus einer Ziploc-Tüte nahm ich ein halbes Stück Riegel und kaute darauf herum. Ich bekam es kaum runter und kippte Wasser hinterher. Ich brauchte Energie und musste mich zwingen, etwas zu mir zu nehmen.
Als ich fast beim dritten Verpflegungspunkt bei km 29 angelangte, sah ich die Deutsche mir entgegenkommen und in die Nacht entschwinden. Da ich weder Hunger noch Durst hatte, ließ ich mein livetracking-Armband am Handgelenk kurz scannen und lief weiter. Es war fast 20 Uhr, ich hatte fast 30 km in den Beinen und setzte meine Reise ins Unbekannte fort.
Zwei anspruchsvolle Pässe waren noch zu überwinden und beide in der Nacht. Ich rechnete mir aus, dass es vielleicht noch für 18 Stunden Zielzeit reichen könnte. Verwarf dann aber auch schnell sämtliche Hochrechnungen und Vermutungen. Immer wieder brachte ich mich zurück auf den Moment.
Der Weg zog sich leicht ansteigend durch die italienische Ortschaft, vorbei an Restaurants und Vinotheken. Vor mir war niemand mehr weit und breit zu sehen.
Weiter leicht ansteigend lief ich aus dem Ort auf einem Feldweg, vorbei an den letzten Häusern in der Ortschaft. Um kurz nach 20 Uhr schaltete ich meine Stirnlampe an. Zweimal verfehlte ich kurz die Markierungen, machte mich nicht verrückt und dachte daran, wie wenig ich das Laufen bei Nacht mochte. Zack, ich war in derselben Situation wie beim Chiemgauer letzten Sommer.
Ich besann mich wieder auf die Übernachtung allein in einem Schuppen und lenkte meine Gedanken darauf, dass alles gut war.
Nach Passieren eines hell erleuchteten Refuges, in dem einige Leute beisammen saßen, sehnte ich mich nach Gesellschaft. Ich war mutterseelenallein, kannte den Weg nicht, wußte nicht, was noch kam. Ich blieb kurz stehen, schaute mich um und dachte: Hier bist du nun, auf deinem Weg, alles ist sicher. Das Wetter spielt mit und ich ziehe das durch.
Wenige Augenblicke später sendete ich ein Stoßgebet zum Himmel: Ich bitte um weitere Mitläufer!
Eine gefühlte Viertelstunde später sah ich weiter vor mir zwei Stirnlampen aufblitzen. Welch Erleichterung. Ich spürte einen Auftrieb und behielt mein gutes Tempo Richtung zweitem Pass, dem Passo Turlo, bei.
Als ich näher aufschloß erkannte ich die Australierin und einen Mann, an den ich mich vage beim Aufstieg zum ersten Pass erinnerte. Er wirkte müde. “Everything ok?”, erkundigte ich mich, wechselte ein paar Worte mit der Australierin und setzte meinen Weg fort. Es lief einfach und ich freute mich, am nächsten Verpflegungspunkt bei km 55 meine Mutter zu sehen. Dass dies noch Stunden dauern würde, war mir in meinen kühnsten Vorstellungen nicht klar.
So lief ich an diesen Läufern vorbei und fühlte mich irgendwie geborgen, hinter mir Menschen zu wissen. Es wurde zunehmend kühler und die Sterne spannten sich wie ein Zelt am Himmel.
Wieder blitzte der Lichtkegel einer Stirnlampe vor mir auf.
Langsam ging mein Wasservorrat zu Ende. Vom Isogetränk hatte ich noch genug, bekam es aber nach wie vor nur schluckweise herunter. Sekunden später erkannte ich die grazile Schweizerin vor mir, die nur langsam einen Schritt vor den nächsten setzte.
Sie torkelte ein wenig und wirkte sehr schwach. Wieder die Frage, ob alles noch gut sei. Sie verneinte, Schwindel und Übelkeit machten ihr zu schaffen. Energisch riet ich ihr, unbedingt etwas zu essen und bot ihr ein paar Schlucke Tailwind an. Wir gingen ein Stück zusammen weiter und zumindest etwas schien ihre Energie zurückzukommen. Ich wünschte ihr alles Gute und setzte meinen Weg durch die Nacht weiter allein fort.
Gerade als ich wieder an meine dürftigen Wasservorräte dachte, sah ich am Rand ein paar männliche Gestalten stehen. Sie hatten grosse 2-Liter Kanister mit Wasser dabei. Die Rettung. Ich bedankte mich überschwänglich mit einem “You saved my life” und lief motiviert weiter, teilte ihnen kurzum noch mit, sich um die Läuferin hinter mir zu kümmern.
Als diese wieder wenige Minuten vor Macugnaga bei km 55 auf mich aufgeschlossen hatte, berichtete sie von der exzellenten Hilfe und Versorgung der Freiwilligen. Sie hatte sich ein paar Minuten im Schlafsack eingemummelt und Energie getankt. Es ging ihr etwas besser.
Leider setzte sich die Tragödie der Frauen fort. Diesmal sah ich kurz vor Erreichen des Gipfels die junge Französin, die zuvor wie ein junges Reh beim ersten Downhill an mir vorbei gesprungen war und sich nun fast schleichend fortbewegte. Und wieder meine Frage, woraufhin sie antwortete, dass sie keine Energie mehr habe und bald aussteigen werde.
Ich bot ihr Tailwind an und lief allein weiter. Ein massives Eisenschild markierte den Gipfel des Passo del Turlo auf 2738 m Höhe. Es war sehr kalt und ich zog meine Windjacke bis obenhin zu.
Was nun folgte, war eine kleine Tortur über riesige, teils nasse und glitschige Steinplatten, die nur jeweils am äußeren Rand laufbar waren. Hier mußte jeder Schritt sitzen. Über zehn Kilometer zog sich der Weg und kurz vor Mitternacht schaltete meine Stirnlampe auf Sparflamme.
Niemand war hinter oder vor mir zu sehen. Was tun? Weiterlaufen oder schnell die Ersatzlampe tauschen? Das konnte doch nicht sein, hatte ich doch extra die teuersten Batterien erst wenige Stunden vor dem Start in die Lampe gesteckt.
Ich wechselte zur 160-Lumen Version und hoffte, dass diese zumindest mit zur nächsten Verpflegung halten würde. Immerhin hatte ich noch sechs Ersatzbatterien dabei. Ich kam wieder in meinen Rhythmus und konnte in weiter Ferne ein hell erleuchtetes Gebäude, was wie eine Hütte aussah, ausmachen.
Doch je näher ich meinte auf die Hütte zu zulaufen, umso mehr verschwand sie aus meinem Sichtfeld. Mehrere Serpentinen verdrehten mir den Kopf und damit jegliche Orientierung. Solange ich die mit Reflektoren versehenen Fähnchen im Blick hatte, war alles gut.
Der Plattenweg ging in einen sehr schmalen, steinigen Trail über und erinnerte mich an die felsigen Partien auf Korsika. Auch hier musste jeder Schritt sitzen und ich verlor auf diesem Abschnitt viel Zeit.
Endlich erreichte ich einen kleinen Zwischenverpflegungspunkt und füllte kurz mein Wasser auf. Noch 6 km sollten es bis Macugnaga sein. Wieder Forstweg unter den Füßen fand ich langsam wieder in einen ordentlichen Laufschritt. Meinen Muskeln ging es noch gut, die Füße taten etwas weh, aber kräftemäßig hatte ich noch Reserven. Ich überlegte, in Macugnaga etwas länger Pause zu machen, um meine Speicher richtig aufzufüllen.
Langsam kam Sandra, die Schweizerin hinter mir an und wir unterhielten uns kurz. Im selben Rhythmus liefen wir durch die Nacht, hielten die nächste kleinere Ortschaft mit ihren Häusern vermeintlich für den nächsten Checkpoint, dabei zog es sich noch ein ganzes Stück leicht bergan. Endlich, meine Mutter winkte aufgeregt, ich konnte sie von Weitem erkennen.
Wir umarmten uns und ich vergoß kurz ein paar Tränen des Frusts und der Erleichterung, bis hierher gekommen zu sein. Mein Beutel mit Wechselkleidung lag im Zelt schon bereit.
Ich zog meine warme Jacke über, setzte mich hin und nahm das Angebot der Helferin an, eine warme Gemüsesuppe zu essen. Immer noch war mein Magen zu, der Gedanke an Essen fiel mir schwer und löste noch größeres Unwohlsein aus. Langsam löffelte ich den Teller halb leer und zog mir frische Oberteile an.
Die Australierin musste mich doch an einem Punkt überholt haben, denn sie rollte gerade ihre Beine mit einer Blackroll auf dem kalten Asphaltboden aus. Ich hielt mich länger auf, als es sich anfühlte und musste mich motivieren weiterzumachen.
Ich zog meine Streckenbeschreibung, die ich mir auf Laminat ausgedruckt hatte, hervor und wusste, dass es nur 6 km bis zum Pass waren, diese aber mit 1700 Höhenmetern gespickt waren. Warten oder weiterlaufen? Ich packte kurzum meine Sachen, bevor es zu gemütlich auf dem Stuhl wurde, und lief begleitet von meiner Mutter hinaus in die Nacht. Die Suppe gluckerte in meinem Bauch.
Sollte ich doch noch ein Stück Riegel essen?
Ich beließ es beim Wasser, denn die Suppe musste wirken, um wenigstens etwas Energie für den Pass zu haben. Nach ca. 1 km mündete der Asphaltweg auf einen Waldweg und bald darauf auf einen schmaleren Pfad, der sehr steinig und schnell steil wurde.
Ich spürte, wie kraftlos ich im Grunde war. Seit über elf Stunden war ich auf den Beinen, und die Nacht war noch lange nicht vorbei. Als ich die letzten Bäume passierte, die zumindest etwas die Kälte eindämmten, hielt ich kurz an und dachte:
Wie soll ich da hochkommen?
Es ist so unendlich weit, niemand war in Sicht, weder hinter noch vor mir. Ich verlor den Mut, die Energie, die Kraft, die Lust. Alles war aus mir gewichen, alle mentalen Strategien, die ich mich für diese Momente zurecht gelegt hatte. Rien ne va plus!
Die Worte meines Coaches hallten in meinen Ohren: Du wirst dich scheisse fühlen. Spätestens auf dem dritten Pass wirst du alles in Frage stellen. Wieso, weshalb, warum. Dann machst du einfach weiter. Sei gewappnet und mach weiter.
Ich war wütend, verärgert, sauer und fand keinen Zugang zu einem positiven Gedanken. Umdrehen war keine Option. Eine Insel bauen? Ich gab mir bis zum nächsten Checkpoint.
Wenn es mir da wieder einigermassen ginge, würde ich weitermachen. Ich legte die Lanzen nieder und gab mich ganz hin in diesem Moment. Nur noch einen Schritt vor den nächsten setzend drehte ich mich in der Spirale aus Hoffnung und Aufgeben. Alle paar Minuten stütze ich mich auf meinen Stöcken ab und atmete zehnmal tief ein und aus.
Das motivierte mich weiterzugehen. Übermannt von großer Müdigkeit setzte ich mich kurz auf einen Stein. Nun torkelte auch ich durch die Nacht. Was ich jetzt spürte, war einfach Ermüdung durch zu wenige Kalorien in meinem System.
Mit leeren Speichern noch weitere 40 km laufen? Wie sollte ich das bewerkstelligen?
Fragen über Fragen. Ich erhob mich vom Stein und schlich weiter voran. Licht - ich sah eine Lichterkette in Form eines Hauses hoch oben aufblitzen. Hoffentlich war das der Gipfel und der nächste Verpflegungspunkt. Ein kurzer Blick auf die Uhr und ich war mir sicher, dass ich bald oben sein würde.
Der kalte Wind blies nun aus allen Richtungen und trotz der dickeren Handschuhe, die ich trug, waren meine Hände kalt. Auch am Oberkörper begann ich mehr und mehr zu frieren. Ich hatte alle Schichten an und kannte nur noch den Weg nach vorn. Jede noch so kurze Pause verursachte im Kopf noch mehr Schwindel und Kälte in meinem Körper.
Ich blickte mich um und sah hinter mir zwei Läufer. Eine davon musste Sandra sein, so hoffte ich. Sie kamen immer näher und schienen gleichzeitig doch nicht auf mich aufzuschließen. Wieder aufstützen und zehn Mal durchatmen, dachte ich. Kurve um Kurve mühte ich mich nach oben ab.
Ich sah unzählige Reflektoren der kleinen orangenen Fähnchen vor mir und wußte, dass es noch ein längerer Aufstieg werden würde. Plötzlich hörte ich Rufe und erreichte nach einer weiteren endlosen Stunde in der Einsamkeit vom Moment, wo ich die Lichter erblickt hatte, die Passhöhe und die warme Hütte.
Eine Gruppe Helferinnen kümmerten sich um mich, schoben einen Stuhl vor den Ofen, in dem ein Feuer brannte. Endlich Wärme, endlich auftanken. Ich konnte kaum sprechen.
Mir standen die Tränen in den Augen und ich tat mich schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. 62 km waren geschafft und noch immer lag ein so weiter Weg vor mir. Es sollte einfacher werden ab dem Moro Pass, so hatte ich gehört, und erneut keimte Hoffnung auf. In der Hütte stand ein großes Buffet mit herzhaften und süßen Leckereien.
Ein paar Stücke trockenes Brot blieben im Magen und das Stück Melone, das mir eine der lieben Helferinnen reichte, wirkte sich überraschend gut auf meinen Magen aus.
Ich nahm ein zweites Stück und Sandra stolperte zur Tür herein. Sie legte sich sofort auf eine Sitzbank und wollte versuchen zu schlafen. Ich ermunterte sie, unbedingt weiterzumachen. Wenigstens bis Saas-Fee. Es würde alles besser werden.
Ich war nun schon fast 15 Stunden unterwegs. Der Zug für unter 20 Stunden war auch abgefahren, überhaupt wurde es mir immer gleichgültiger, wann ich finishen würde.
Mehr als genug Puffer hatte ich, es kam jetzt darauf an, ob ich mit meinen letzten Energiereserven noch würde haushalten können und sich vielleicht ein Wunder ergäbe. Denn auf meine Stärke, im letzten Viertel eines Ultras noch mal zulegen zu können, hatte ich mich bisher immer verlassen können.
Während ich am Ofen saß und mir langsam wieder warm wurde, legte sich eine überwältigende Müdigkeit über meine Augen. Sie brannten und ich wollte nur noch schlafen.
Mir war auch bewußt, dass ich dann womöglich nicht mehr vom Stuhl aufstehen konnte. Ich brauchte die Kälte draußen, die mich wieder wachrütteln würde und außerdem stand noch ein Highlight bevor. Eine goldene Madonnen-Statue wachte etwas oberhalb der Hütte über den Berg, der die Schweiz mit Italien verband. Immer wieder hatte ich Bilder von dieser schönen Figur gesehen.
Ich verabschiedete mich von Sandra und den Helferinnen und brach zitternd noch in der Dunkelheit auf, stapfte über schmale Holzbalken, die am Fels zur Madonna befestigt und mit Raureif bedeckt waren, hinauf zur Statue. Bei jedem Schritt bestand akute Gefahr auszurutschen.
In der bereits einsetzenden Morgendämmerung hangelte ich mich an der Madonna vorbei, richtete staunend meinen Kopf nach oben und starrte sie ehrfürchtig an. Ich bekam am ganzen Körper Gänsehaut und fühlte mich auf eine eigenartige Art und Weise ergriffen und beschützt.
Ich setzte meinen Weg fort und kam nur langsam voran, so glatt waren die Steine und so steil abfallend der Weg, der eigentlich keiner war. Weit unter mir erspähte ich einen laufbar aussehenden Pfad, doch es dauerte auch hier wieder eine gefühlte Ewigkeit, bis ich dorthin angelangte. Nach über zehn Stunden konnte ich endlich meine Stirnlampe morgens um halb sieben ausschalten und den neuen Tag begrüßen.
Was machte ich hier? Es war Samstagmorgen und ich dachte an meine Liebsten. Was sie wohl machten? Wußten sie, wo ich bin und beobachteten im livetracker wo ich mich befand. Ich dachte auch an Peter´s Worte: Du schaffst das auf jeden Fall.
Ein Mann mit einem kleinen Jungen in einer speziellen Trage auf dem Rücken kam mir entgegen. Er mußte sehr früh aufgebrochen sein, um bereits an diesem Punkt zu sein. Ich konnte auf meinem Weg einen riesigen Stausee erkennen, sonst nichts. Nun konnte ich endlich wieder laufen, richtig in einen Laufschritt kommen, aber ich wollte nicht.
Jetzt ginge es leichter, ich würde gut vorankommen können, aber nichts konnte mich motivieren. Ich war benommen von Müdigkeit, als hätte mir jemand etwas eingeflösst. So marschierte ich im Gehschritt weiter, zog meine Mütze noch weiter ins Gesicht und blickte mich kurz um. Niemand war zu sehen.
Der Weg setzte sich nun weiter fort rechts entlang des 3-km langen Stausees, immer wieder war der Kiesweg leicht ansteigend. Eine unangenehme Kälte zog seitlich herüber. Ich fror und wünschte, an einem anderen Ort zu sein. Wenigstens muskulär ging es mir noch gut.
Vor mir auf dem Weg sah ich plötzlich Menschen stehen, manchmal nur eine Person und andere Male mehrere in einer Gruppe am Weg stehend oder nah am Felsen rechts des Weges. Das konnte doch nicht sein. Was machten diese Menschen um diese Uhrzeit hier?
Je näher ich kam, umso mehr verschwanden sie. Ich halluzinierte und war kurz davor nach vorn umzufallen, so müde war ich. Immer wieder meinte ich, in einen Sekundenschlaf zu fallen, blieb stehen und stütze mich auf den Stöcken ab. Ab und an lief ich wieder für ein paar hundert Meter, doch die extreme Müdigkeit wollte nicht schwinden.
Als ich einen Felsvorsprung entdeckte, kroch ich darunter, hockte mich auf einen Stein, schlang meine Arme um die Knie und vergrub meinen Kopf. Ich mußte für ein paar Momente weg gewesen sein, als ich hoch schreckte und Sandra vorbeilaufen sah.
Ich berappelte mich schnell und lief ihr nach. Und dieser Augenblick markierte den weiteren Verlauf, denn wir liefen Seite an Seite bis nach Saas-Fee und ermutigten uns immer wieder zu laufen.
In einem Waldstück wenige Kilometer vor der nächsten Verpflegungsstelle trafen wir auf eine andere Läuferin. Ich erkannte, dass es die Australierin war. Sie humpelte und weinte vor sich hin. In Saas-Fee mußte sie aufgrund schwerer Knieschmerzen aufgeben.
Bald ging der Weg von weichem Waldboden auf Asphalt über, ein Killer für die schmerzenden Fußsohlen. Alle Bänder und Sehnen hielten, was mich richtig glücklich machte. Die paar Höhenmeter downhill würde ich so oder so noch packen. Nichts konnte mich stoppen außer negative Gedanken.
Doch gerade weil Sandra und ich nun gemeinsam den Weg fortsetzten, schafften wir keinen Raum für Klagen und Beschwerden. Es gab nur den nächsten Schritt vorwärts.
Der Forstweg zog sich ansteigend über einige Kilometer hin und der Blick auf die Uhr zeigte an, dass es fast 9 Uhr morgens war. Die Sonne und der wolkenfreie Himmel hoben enorm die Laune an. Es gab keine Entschuldigung, aufgrund schlechten Wetters aufzuhören.
Wir bogen in Saas-Fee um eine letzte Kurve den Fähnchen folgend und endlich sah ich meine Mutter wieder. Ihre herzliche, feste Umarmung tat so gut. Bester Laune füllte sie meine Flaschen auf, wir tauschten ein paar Worte und sie bestärkte mich, auf jeden Fall bis ins Ziel zu laufen - no matter what!
In dem Verpflegungszelt standen einige Bierbänke, auch kleine Feldbetten waren aufgestellt für diejenigen, die schlafen wollten. Es kamen nach und nach Männer des Etappenlaufs und der 100 Meilen ins Zelt gelaufen. Wieder waren viele liebe Helfer vor Ort und es blieb kein Wunsch offen.
Wo war die Zeit nur hin? Es würde Nachmittag werden, bis Sandra und ich in Grächen sein würden. Nachmittag! Eigentlich hatte ich vorgehabt, um diese Zeit schon im Ziel zu sein.
So schnell sind in diesem Gelände Zeiten und Kilometer geschmolzen. Ich hätte mich ärgern können, über mich selbst, die Magenprobleme und das teils sehr schwierig zu laufende Terrain. Hätte Vergleiche zu anderen Läufen anstellen können.
Aber wozu?
All das hätte mich nicht weitergebracht. Von Saas-Fee ging es weiter, unbeirrt der Zeit und Prognosen, wann wir ankommen würden.
16 Kilometer und ein langer Anstieg mit über 100 Höhenmetern zur Hannigalp waren noch zu bewältigen und danach noch weitere 4-5 km bis nach Grächen ins Ziel.
Endlich konnte ich wieder eine Kleinigkeit essen und schnappte mir getrocknete Aprikosen, Salzbrezeln und ein paar Stücke Banane. Von Minute zu Minute schien mein Energielevel wieder anzusteigen. Auch Tailwind konnte ich nun besser aufnehmen.
Der Weg setzte sich zunächst auf einer langen Asphaltstrasse ortsauswärts fort, bis wir auf einen Forstweg in den Wald abbogen, der dann schnell in einen schmalen Trail überging.
Ich sagte Sandra noch, dass sie einfach ihr Ding machen sollte, aber sie beharrte darauf, die Strecke gemeinsam zu Ende zu bringen. Wir waren beide gleichermaßen k.o. Keine von uns konnte richtig wegziehen, so dass wir beschlossen, uns gegenseitig anzutreiben.
Die schmalen Wege waren an manchen Stellen laufbar, vor allem auf den leicht bis steiler abfallenden Passagen. Die Lust, berghoch zu gehen, war mir entgangen. Ich war im Funktionier-Modus, Schritt für Schritt im Rhythmus weiterzukommen.
Der Höhenweg war um diese Zeit schon etwas mehr besiedelt von Wandergruppen. Drei Schweizerinnen, die uns entgegen kamen, fragten, was wir hier machten.
Wie erklärt man jemandem, dass man schon seit 20 Stunden durch die Gegend rennt?
Begeistert steckten sie uns Vitamin C Drops in den Mund, eine von ihnen quetschte mir eine Portion Sonnencreme in die Handfläche, die ich dann auf meinem Gesicht und Unterschenkeln verteilte. Die Sonne brannte herunter. Immer weiter ging es hoch, es war einfach kein Ende in Sicht.
Zwar bot der Höhenweg spektakuläre Ausblicke auf die imposante Berglandschaft, aber richtig genießen konnte, vielmehr wollte ich dies zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Wir blickten auf die Uhr.
Eigentlich müssten wir sehr bald bei der Alp ankommen. Diverse Hinweise von Wanderern stimmten uns optimistisch, doch die Wegbeschilderung mit darauf angegebenen Wanderzeiten verhieß nichts Gutes.
Eine weitere Stunde später waren wir immer noch nicht am letzten Verpflegungspunkt trotz des nicht sehr langsamen Tempos. Der Pfad wand sich wie eine Schlange entlang der Felsformationen.
Die Schritte wurden immer zäher und plötzlich tat sich nach einer weiteren Kurve ein Waldweg auf.
Die Hannigalp war endlich in Sicht.
Dort trank ich noch einmal einen Becher Cola und wechselte ein paar Worte mit der 4-köpfigen englischen Familie, die Teil der freiwilligen Helfer waren und die so viel Begeisterung und Verständnis für uns verrückte Läuferinnen hatten.
Auf den abschließenden wenigen Kilometern bis ins Ziel fühlten sich meine Beine immer noch gut an. Einige hundert Meter abwärts wollten noch gemeistert werden. Als Grächen dann zum Greifen nah war, stiegen mir kurz die Tränen in die Augen. In wenigen Minuten würde diese Reise zu Ende sein.
Wir bogen in eine Straße ein, hörten bereits einen Sprecher durchs Mikrofon rufen, nahmen uns bei der Hand und legten einen kleinen Endspurt ins Ziel hin. Ich sah meine Mutter jubelnd an der Bande stehen.
Arrivee!
Sandra und ich fielen uns in die Arme und Lizzy stand bereits mit einem gelb schimmernden Seidenschal, der in der Sonne fast golden wirkte, da und legte ihn mir um den Hals. Sie hängte dazu die Medaille um und ich konnte keine Worte fassen und nur “thank you for this” hervorbringen.
Danach drehte ich mich um und fiel meiner Mutter in die Arme. Minutenlang ließ ich unter Tränen meinen Emotionen freien Lauf. Ich war so endlos dankbar, diese 100 km bis zum Ende durchgezogen zu haben, mit allen Höhen und Tiefen, die dazu gehört haben.
An diesem Tag hatte ich mein Bestes gegeben.
Vier Monate intensive Vorbereitung fielen von mir und damit all die Anspannung, Unsicherheit, Aufregung, Hoffnung, Zuversicht und Glaube. Es war geschafft!
Erst viel später am Abend, nach der genussvollsten Dusche seit Langem, einer großen Portion Pommes, Sekt und Cappuccino entdeckte ich in den Ergebnislisten, dass ich mit Sandra 4. Frau geworden war. Von 18 Starterinnen hatten 7 aufgegeben.
Dieser Lauf bedeutet mir, jetzt, nachdem 2 Wochen vergangen sind, so viel mehr als eine Platzierung. Auch mit der Zielzeit mit über 23 Stunden bin ich zufrieden. Der Weg war das Spannende. So viel passiert in so einer solchen Zeitspanne, dass Kopf und Körper einige Zeit brauchen, um das alles zu verarbeiten.
Ich schlief tief und fest in dieser Nacht, erinnere mich noch, wie ich am nächsten Morgen aufwachte und dachte: Ich bin 100 km im Monte Rosa gelaufen. Erst nach und nach sickert dieses Erlebnis durch.
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