Wenn Laufen zur Sucht wird

Rast mit Bergblick

Buch Trailrunning für Frauen von Anna Hughes

„Ein Zustand, in dem sich das Ego auflöst und die Zeit zu fliegen beginnt. Jede Handlung, jede Bewegung, jeder Gedanke folgt unausweichlich auf das Vorausgegangene. Das ganze Sein ist aufgesogen, und das Können auf die Spitze getrieben.“ So definiert der Psychologe Mihaly Csikszentmihaly den Zustand des Flows (Quelle: All Mountain Magazin, Ausgabe Winter 02/16, Seite 85: Lebenslänglich: Flow!).

In der Läuferszene wird gern vom Runner ́s High (zu deutsch: Läuferhoch) gesprochen. Jedoch kann bei allzu ehrgeiziger Jagd nach dem High schnell eine Sucht entstehen. Gerade in Läuferkreisen kein unbekanntes Phänomen, aus dem nicht selten die besagte Laufsucht entsteht. (de Jonge, 2020)

Die Ausmaße des Strebens nach dem eigenen Ideal, eben auch die Illusion vom ultimativen Kick durch mehr Sport, kann fatale Auswirkungen haben. Gerade beim Laufen ist es schwer, auszumachen, wann von Sucht und wann von echtem Vergnügen gesprochen werden kann.

Ein erstes Anzeichen kann sein, dass es jeden Tag ein bisschen mehr sein muss.

Der höhere Berg, das schnellere Tempo, noch mehr Höhenmeter zu sammeln als am Tag zuvor, der noch extra drangehängte Kilometer. Vielleicht kommt dir das bekannt vor:

  • »  Du verschiebst Termine oder erscheinst gar nicht zu Verabredungen.

  • »  Du flüchtest dich vor deinem Partner in Ausreden, Stress abbauen zu müssen.

  • »  Oft läufst du trotz Verletzungen und Schmerzen weiter.

  • »  Du hast ein schlechtes Gewissen, wenn du nicht läufst und das Laufen ist bereits zum

    Zwang geworden.

  • »  Freunde, Bekannte, Familie und Kollegen fragen besorgt nach deinem Befinden, du

    weichst aus.

  • »  Du kannst dir nicht vorstellen, mal ein paar Tage oder gar Wochen nicht zu laufen.

Die Grenzen sind oft fließend, wenn aus einer ursprünglichen Absicht, sich Gutes tun zu wollen, das Laufen zur Waffe gegen sich selbst wird. Laufen gegen die Überzeugungen im Inneren, nicht gut genug zu sein, nicht schlank genug, nicht stark genug, nicht erfolgreich genug. Der Zwang, sich selbst zu kontrollieren und im Griff haben zu müssen, überwiegt. Doch nur im Flow-Zustand bist du wirklich frei.

Bin ich nun schon süchtig, wenn ich fünfmal pro Woche trainiere, aus Spaß und Freude an der Bewegung?

Vor vielen Jahren fiel mir das Buch Vom Junkie zum Ironman von Andreas Niedrig, einem der besten deutschen Langstreckentriathleten, in die Hände. Schon sehr lange begeistern mich immer wieder wahre Geschichten von Menschen, die sportlich extreme Leistungen erbringen und sich von ganz unten, aus einem persönlichen Leiden heraus, nach oben trainiert und mehr als einmal gequält haben.

Ein verbreitetes Phänomen – vor allem unter Männern. Geschichten, die polarisieren und immer aktuell bleiben. Wenn es von der Nadel, der Flasche, dem Glimmstängel oder vom kompulsiven Essverhalten in die Laufschuhe geht. Andreas Niedrig gelang nach dem Ausstieg aus der Heroinsucht nach nur drei Monaten Training der Einstieg in eine andere Welt.

Er legte eine Marathonzeit in außerirdischen – basierend auf seiner Vorgeschichte – 2:43 Stunden hin. Seit einigen Jahren unterstützt er nach einer international erfolgreichen Triathlonkarriere das Projekt Traumwärts, „welches Menschen auf emotionale Weise anregen und unterstützen soll, persönliche Träume und Ziele umzusetzen”

Doch was verbirgt sich dahinter, wenn Menschen nicht mehr ohne können, ohne Lauf- schuhe und Dauertraining?

Knapp ein Prozent der Bevölkerung ist hierzulande von einer Sportsucht betroffen. Gerade bei Läuferinnen ist die Tendenz groß, ein paar Pfunde schwinden zu lassen, beispielsweise nach Schwangerschaften. Der Erfolg des Trainings ist schnell sichtbar, es hagelt womöglich Komplimente aus dem Umfeld, die eigene Motivation ist angefeuert. Jeder Gedanke kreist plötzlich ums Training.

Nur noch einen Lauf, ab morgen ändere ich das. Junkies geht es da nicht anders und sagen sich in ihrer Verzweiflung: „Nur noch einmal, dann ändere ich alles.“ Bis der nächste Tag herannaht und das Spiel von vorne losgeht, die innere Stimme ruft: Ich muss. Ich kann nicht anders.

Je mehr ich laufe, desto mehr kann ich mich spüren, verbessern, mir beweisen, dass ich doch gut genug bin und damit das Gegenteil meiner inneren Überzeugung attestieren, eben nicht gut genug zu sein.

Schauen wir zurück auf den Ursprungsgedanken des Flows.

  • Wie gut fühlt es sich an, wenn ich mich aus freien Stücken bewege, meinen Körper spüre, die Umgebung genießen kann, ohne an die Schmerzgrenze zu gehen und mich zu veraus- gaben?

  • Wenn ich mich nicht aufs Müssen fokussiere, sondern mich entscheide, in erster Linie aus Spaß zu laufen und „ganz im Sein aufgesogen bin“?

Diesen Zustand zu spüren, wo Körper, Geist und Seele im Einklang sind, ist jeden Schritt wert. Versuche es mal mit Gemächlichkeit und an dieser Stelle soll keinesfalls eine Laufsucht ver- harmlost werden. Wenn du dich in diesen Zeilen wiederfindest oder dich mit einzelnen Aspek- ten daraus identifizieren kannst, ist es ratsam, dir professionelle Hilfe zu suchen.

Run happy. Be happy.

Deine Anna

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