Mein Solocrossing über Nordafrika´s größten Salzsee - ein Erlebnisbericht

Chott El Djerid, Tunesien

20. Juli 2023

Ein sehr heißer Nachmittag im Juli. Ich sitze an meinem Laptop und arbeite etwas. Die Klimaanlage rotiert vor sich hin und ich bin froh, in der Kühle zu sitzen. Am frühen Morgen bin ich Intervalle gelaufen, 12x 1 min. in der Hitze, der man auch morgens nicht entkommen kann. Die Luft ist einfach immer stickig-schwül, immer, zu jeder Tageszeit. 

Die Meeresluft bringt die Feuchtigkeit bis in jeden Winkel der Stadt, dringt in jede Ecke unseres Hauses ein, das in einer Parallelstraße zum Meer gelegen ist. So charmant Mahdia auch ist, im Juli und August ist es draußen oft unerträglich.

Und doch mag ich die Hitze, jedoch mehr die trockene. Das sollte sich bei einem kleinen Roadtrip in den Süden des Landes gemeinsam mit einer Freundin wieder bestätigen. 

Ich bin also abgehärtet durch das regelmäßige Lauftraining auch in den Sommermonaten, zu einem gewissen Grad an die Hitze angepasst, auch wenn es sich nie so anfühlt, als würde es beim nächsten Lauf leichter gehen. 

Doch aufs Laufen wegen der stickigen Hitze verzichten?! Nie im Leben. Dazu laufe ich einfach zu gern, schon fast mein ganzes Leben lang. 

Ich habe mir die letzten Wochen einige Strategien zurechtgelegt. Eine davon ist, meinem Training einen Sinn zu geben, was am leichtesten geschieht, wenn beispielsweise ein Wettkampfziel daran geknüpft ist und ich mir dann sagen kann: “do the work!”   

Ein Ziel zu haben, hilft mir gerade an diesen heißen Tagen, wo man sich schon mit einem halben Schweißausbruch aus dem Bett quält - wohlgemerkt nicht unter einer Decke hervorschält- , mich zum Laufen aufzuraffen und in die Hitze nach draußen zu treten. Doch ein richtiges Ziel hatte ich nicht außer weiterhin fit zu bleiben.

Eine weitere Strategie ist, mich direkt nach einem Lauf mit einem Sprung ins kühle Nass zu belohnen. Ich platziere immer ein kleines Handtuch an derselben Stelle zwischen den Felsen neben der Steintreppe, die direkt ins Meer mündet und ich kann es auf dem letzten Kilometer kaum erwarten, mit dem Kopf unter Wasser zu gehen. Innerhalb von wenigen Minuten gelingt es so, Kopf und Körper herunterzukühlen, was eine einfache Dusche nie bewirken kann. 

Diesen Sommer motivierte mich zusätzlich eine fest geplante Reise nach Deutschland, wo Abkühlung warten würde. Eine kleine Flucht aus dem Rummel, der in Mahdia während etwa acht Wochen währt. So zählte ich im Juli schon die Wochen, später die Tage, bis ich Anfang August in die Fähre nach Genua steigen würde. 

Und dann passiert es. Ein plötzlicher Gedankenblitz durchfährt meinen Geist. Aus mir bis heute immer noch unerfindlichen Gründen sehe ich Bilder vom Chott El Djerid, Nordafrikas größtem Salzsee, vor mir. In sekundenschneller Abfolge sehe ich mich auf diesem See laufen.

Ich weiß nicht wann. Ich weiß nicht warum. Ich weiß nicht, wie. 

Was ich weiß, ist, dass ich es tun werde. Ich werde den Salzsee durchqueren und in Amir´s Fußstapfen steigen. Als erste Frau der Welt. 

Amir hat es vorgemacht. Es ist möglich. Letztes Jahr nach meinem Sieg beim Ultra Mirage Ultramarathon in der tunesischen Sahara habe ich ein wenig über Amir Ben-Gacem, den Renndirektor, recherchiert. Ich war neugierig, wer hinter der Organisation eines Ultramarathons in Tunesien steckt, bei dem man zwischen zwei Distanzen, 50 km und 100 km non-stop, wählen kann. Er hat es geschafft, ein Event zu etablieren, das auch internationale Läufer anzieht. 

Ich gelangte zu einem Artikel von Amir auf Medium.com, in dem er sein Solocrossing über den Salzsee beschrieb. Kein Lebewesen existiere dort, steht dort geschrieben. Erst im zweiten Versuch war es ihm gelungen, die Strecke in einem Rutsch zu bewältigen. Eine Traverse von Südost nach Nordwest.

Was muss das für ein Gefühl sein, allein mitten im Nichts zu laufen? In der Stille dieser Natur, mit nichts, auf das man sich fokussieren kann. Kein Strauch. Kein Busch. Keine Palme. Kein Tier. Kein Haus. Kein Mensch. 

Beim Gedanken daran spüre ich Angst und Aufregung, denke, nein, das ist mir eine Hausnummer zu hoch. Zu verrückt. Nicht machbar. Und schiebe die Idee beiseite. 

Vielleicht war es also eine unbewusste Eingebung an jenem Nachmittag im Juli. Irgendein Gedanke, der zu einem weiteren führte. Im wahrsten Sinn des Wortes verrückt, was sich in den Tiefen unseres Geistes abspielt, was uns tief bewegt und beschäftigt. 

Ich nahm den Ruf wahr und beschloss, das Projekt noch dieses Jahr auf die Beine zu stellen, liebäugelte mit den deutlich kühleren Jahreszeiten, Oktober oder November. 

Spontan schrieb ich Amir eine Nachricht auf LinkedIn.

Er antwortete schnell und wir vereinbarten ein Telefonat.  

Ich war aufgeregt, hielt mich für leicht übermütig, dachte sogar daran, den Salzsee über die Schnellstraße P 16 zu überqueren. Nur sechzig Kilometer schnurstracks geradeaus, direkt neben der Fahrbahn, das traute ich mir auf jeden Fall zu, eine Art Light-Version des Solocrossings.

So könnte man auch leicht ein Supporter-Fahrzeug organisieren und Punkte vereinbaren. Außerdem wäre ich dann nicht so extrem dem See ausgesetzt und hätte noch ein paar Sicherheiten. 

Nix da. “Haha nein, das ist zu leicht . Wenn du es machen willst, dann mach es hardcore.”

Klare Ansage seitens Amir. Und meine klare Antwort dazu: “Ok. "So mache ich´s.”

Er betont, dass es nur ein Versuch sein könne. Ein Experiment mit einer 50%igen Chance, es nicht zu schaffen und sich gar in Lebensgefahr zu bringen. Im Hinterkopf hatte ich schon eine Idee, was ich machen könnte, um die extreme Hitze zu vermeiden. 

Live or die.

Ich zuckte leicht beim Lesen seiner Nachrichten, mein Herz begann schneller zu schlagen. Es gäbe nichts daran zu beschönigen. Der Salzsee wird dir alles abfordern, so seine Worte

Es folgte ein kleines Bombardement mit Fragen, die ich mir überlegt hatte und an Amir richtete: 

  • Welche Route bist du genau gelaufen? 

  • Hast du für den Notfall ein Satellitentelefon dabeigehabt?

  • Wie hast du deinen Wasservorrat vorab auf der Route platziert?

  • Wie viele Leute waren in deinem Supporter-Team?

  • In welcher Jahreszeit, in welchen Monaten ist es am besten, die Traverse zu laufen? (Ich weiß, du bist beide Male im Juli gelaufen, aber ich kann zeitlich nicht vor Mitte September)

Die Antworten darauf sollten sich zügig klären. 

Und das Ganze bekam ab diesem Punkt einen beachtenswerten Aufwind. So, als wäre ein großer Stein ins Rollen gekommen, der unaufhaltsam seinen Weg nahm. 

21. Juli 2023

Meine Motivation ist hauptsächlich intrinsischer Natur – ich suche ein Solo-Abenteuer (obwohl es nie eine One Woman Show, sondern immer eine Teamleistung ist) und mag Extreme. Ich möchte versuchen, etwas durch das Laufen zu bewegen, ohne dass alles vorher abgesteckt ist. 

Ein Luxus, den man bei organisierten Laufveranstaltungen hat. Und ich will dabei verschiedene Fähigkeiten entwickeln. Da in Tunesien immer mehr Laufveranstaltungen aus dem Boden sprießen, möchte ich außerdem mehr Frauen dazu inspirieren und motivieren, ihre Möglichkeiten auszuprobieren und zu erweitern, Mut machen, etwas anderes, Neues zu wagen. 

Adrenalin rast durch meine Venen und breitet sich im ganzen Körper aus. Mein Bauch ist flatterig. Ein gutes Zeichen. Im Eifer der Aufregung suche ich die Toilette auf und lasse daraufhin einen weiteren Espresso aus der Kaffeemaschine laufen. 

Dabei erinnere ich mich an eine entscheidende Zeile aus einer E-Mail, die ich vor ein paar Monaten von meinem Psychotherapeuten erhielt, dessen Input bei meinen Laufevents der letzten 14 Monate einen nicht zu unterschätzende Rolle spielt.

…” Möglicherweise haben Sie mit sich selbst eine spannende und vitale Abenteurerpersönlichkeit an Ihrer Seite.“

Ich hatte mich selbst nie in Verbindung mit einer Abenteurerin gebracht. Und jetzt nehme ich zum ersten Mal diese Perspektive ein und lasse zu, diesen Aspekt meiner Persönlichkeit vielleicht schon bald auf diese Art auszuprobieren. 

Alles selbst zu organisieren und zu schauen, wie weit ich kommen werde. Zu diesem Zeitpunkt steht noch nicht fest, dass es dieses Jahr mit dem Solocrossing funktionieren würde. Ich möchte dies zwar, aber der Wille allein genügt nicht. Es müssen noch viele andere Komponenten zusammenpassen, damit ein ganzer Kuchen daraus werden kann. 

22. Juli 2023

Am späten Nachmittag telefoniere ich mit Amir. Ich denke, er traute mir einen solchen Lauf zu, warnte mich jedoch immer wieder, dass das Risiko, es nicht zu schaffen, sehr hoch sei. Ohne Support Crew sei das Ganze unmöglich.

Im ersten Moment entmutigt mich diese Aussage, und gleichzeitig spüre ich eine Zuversicht in mein Können und weiß um all die Erfahrungen, die ich bei diversen Ultramarathons schon machen konnte. Es gibt immer Tiefpunkte, egal wie gut es läuft, und genau diese gilt es abzufedern und einen Umgang damit zu finden.

Am meisten Sorge macht mir der Fakt, dass der Boden nur zwischen Juni und August trocken und somit laufbar ist. Damit hatte ich nicht gerechnet und ich war kurz davor, das Projekt auf den Sommer 2024 zu verlegen. Ich sage zu Amir, dass mir somit nur wenige Wochen Zeit blieben und wie das alles auf die Beine zu stellen sei. 

Der zweite Punkt war die Hitze, die auf dem Salzsee tagsüber bei gefühlt 50+ Grad Celsius liegen kann, so dass ein Start spätabends am sinnvollsten sei. 

Uff!

Laufen in der Nacht gehörte definitiv nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Zweimal habe ich schaurige Erfahrungen im Rahmen von 100-km Läufen gemacht, die mir bis heute noch in Erinnerung sind. 

Da ist im Juli 2017 die stockfinstere Nacht in den Chiemgauer Alpen, in der nicht nur meine Uhr den Geist aufgab, sondern ich die Streckenmarkierungen kaum ausfindig machen konnte und im immer schwächer werdenden Lichtkegel meiner Stirnlampe durch die Nacht irrte und stets hoffte, dass ich bald den nächsten Verpflegungspunkt erreichen würde. 

2018 lief ich im Hochgebirge des Monte Rosa Massivs im Rahmen der Ultra Tour Monte Rosa auch mutterseelenallein herum. Wieder war der Mond nur eine kleine Sichel und das überschaubare Läuferfeld entzerrt. Die erste Lampe gab trotz neu eingesetzter Batterien nach eineinhalb Stunden den Geist auf. Die Ersatzstirnlampe, welche ich mitführte, rettete mich vor dem endgültigen Durchdrehen in dieser überdimensional großen Bergwelt. 

Die Vorstellung, allein auf dem Salzsee herumzuirren, macht mir Angst. Die Art von Angst, die in so manch heiklen Situationen als kluger Berater dienen kann. Es ist eine Angst, der ich mich nicht stellen und die ich nicht überwinden will. 

Im weiteren Gespräch mit Amir stelle ich fest, dass ich einige Dinge anders machen will. Im Vordergrund steht für mich, allein ohne Begleitläufer zu laufen, jedoch zwei Begleitpersonen auf Quads in der Nähe zu wissen.

Mir ist wichtig, die Strecke laufend zu packen, aber es mir leichter zu machen, indem ich kein zusätzliches Risiko eingehe, verloren zu gehen, was wiederum tatsächlich lebensgefährlich sein könnte. Vor allem, wenn dann das Wasser ausgeht. So war es tatsächlich Amir 2018 ergangen. 

Aufmerksam höre ich ihm weiter zu mache ich mir Notizen. Er stellt klar, dass ich ihn jederzeit kontaktieren könne, sollte ich Infos gebrauchen. Und er würde mir einen wichtigen Kontakt weiterleiten, der mir helfen könne, die Quads zu organisieren. 

Mit jeder Menge Antworten auf meine Fragen und Klarheit erzähle ich am Abend meinem Partner Nesh aufgeregt von meinem Vorhaben. 

“Ich unterstütze dich dabei und bin da für dich.”

Sein Feedback und seine Begeisterung geben mir einen zusätzlichen Antrieb, alles dafür zu tun, das Abenteuer zu realisieren und gemeinsam im Team dieses Baby zum Laufen zu bringen. 

23. Juli 2023

Ich wache auf und denke, dass ich mein Vorhaben nur geträumt habe. Shit, was habe ich da alles angeleiert. 

Will ich das wirklich? 

Wieder versetzt mir der Gedanke an den Salzsee ein flattriges Auf und Ab in die Magengegend. Und ich weiß, es sind nur Gedanken. Und Ängste reine Projektionen in die Zukunft. 

Ich könnte mir auch einfach vorstellen, wie ich leichtfüßig über Mutter Erde schwebe. Und Nesh als Supporter nur zwei Kilometer Abstand hält. Dieser Gedanke stimmt mich sofort ruhiger. 

Wir brauchen ein zusätzliches GPS-Gerät und einen GPS-Tracker. Noch während ich die erste Tasse Kaffee in der Hand halte, suche ich bei eBay Kleinanzeigen danach und zerbreche mir halb den Kopf darüber, was ich an Technik noch alles so brauche. 

Was, wenn meine sonst so zuverlässige Coros doch den Geist aufgibt? 

Nein, nur der Technik zu vertrauen, ist mir zu wenig. Ich will mich bestens vorbereiten, alle Eventualitäten durchdenken, bloß keine Überraschungen aus Naivität oder Nachlässigkeit heraufbeschwören.

So bin ich bisher alle meine Ultramarathons angegangen. Lieber etwas zu viel planen und alle möglichen Szenarien durchdenken, als dann den Salat zu haben. Das kann schneller passieren als gedacht.

Und an diesem Punkt fängt der Spaß schon an. Ich merke, wie viel Energie allein die Idee und die ersten Handlungsschritte für dieses Projekt freisetzen. 

Vielleicht ist alles auch nur halb so wild und es wird nur heißer gekocht als gegessen. Ich weiß, dass ich genug Erfahrung mitbringe, die Distanz zu schaffen und schreibe in die Notizen-App meines iPhones:

Ziel: unter 8 Stunden, als 1. Frau und zweiter Mensch überhaupt. Mir hilft es immer, mir eine Zielzeit zu überlegen, die einerseits realistisch ist und andererseits auch etwas darunter liegen kann, eine Traumzeit. 

Ich laufe gern ambitioniert, nur irgendwie ankommen reicht mir nicht. Ich mag es, mich anzustrengen, die Lebendigkeit dabei zu spüren. Gehen will ich auf der Route auf keinen Fall.

Es ist ein Sololauf, kein Solospaziergang oder eine Wanderung über den Salzsee, um dann zu sagen: ich habe die Traverse gemacht.

Ich bin Läuferin und habe vor, die 70 Kilometer in dieser Fortbewegungsart zu schaffen. Je schneller ich die Strecke laufe, desto weniger Hitze bekomme ich ab. Auf keinen Fall will ich der unerbittlichen Sonne ausgesetzt sein, die ihre Strahlen auf dem Chott um diese Jahreszeit schon mal auf 45 Grad und mehr aufheizt. 

2008, während einer sehr langen Etappe in der marokkanischen Sahara im Rahmen des Marathon des Sables, waren wir, das Läuferfeld, 45-49 Grad ausgesetzt. Es war Anfang April und es war kein Spaß. Diese Referenzerfahrung hilft mir zumindest, im Kopf zu wissen, dass ich das damals geschafft habe und habe nun die Freiheit, den Lauf über den Salzsee nach den Bedingungen abzustecken, wie sie mir gefallen. 

In einigen Aspekten wird sich meine Herangehensweise zu Amir´s unterscheiden. Hierbei erkenne ich einen weiteren wichtigen Aspekt eines Soloprojekts: 

  • Sammle so viele Infos du kannst

  • Lerne von denen, die es vorgemacht haben und passe es auf dich an

  • Stelle ein Team zusammen, das am selben Strang zieht


Die Grundlage passte. Ich war seit den Wintermonaten meist um die 50 Kilometer pro Woche gelaufen. Was mir fürs Laufen auf dem Salzsee helfen könnte, war, den oft bei Ultraläufern gesehenen Schlurfschritt zu vermeiden, indem ich Tempo in meine Beine lief.

Ich wollte keine Rekorde brechen, dennoch nicht den halben Tag brauchen. Ab acht Stunden wird das Laufen ohnehin meist zäh und wenn man dann noch in der Lage ist, die Beine etwas anzuzünden, macht's einfach mehr Spaß. 

So weit die Theorie. 

24. Juli 2023

Noch genau 5 Wochen. 

Zumindest, wenn ich tatsächlich Ende August als Startdatum wählen würde. Eine weitere Option ist für den 24.8. gegeben. Da wäre ich in einer deutlich günstigeren Phase meines Zyklus. Mittlerweile gebe ich viel darauf, in welcher Phase meines Zyklus ich bestimmte Trainings mache, und meistens habe ich auch Glück, dass ich zu einem Wettkampftermin eine günstige Phase erwische. 

Günstig ist die Zeit vor dem Eisprung. Je mehr es auf den Beginn der Periode zugeht, desto empfindlicher sind meine Muskeln und vor allem die Sehnen. Ich lege Intervalltrainings daher oft in die günstige Phase. Klar, es geht auch in der zweiten Zyklushälfte, aber ich habe deutlich mehr Energie und Kraft, wenn der Körper hormonell gutsteht. 

Doch in der Not frisst der Teufel Fliegen. 

Nesh ist noch mitten in der Hochsaison und kann nicht einfach drei Tage die Tauchschule schließen. Außerdem stelle ich fest, dass der nächste Vollmond am 31.8. sein wird, dazu noch ein Blue Moon. Wir entscheiden uns gemeinsam für den Zeitraum vom 27.-29. August mit dem Start des Laufs am 28. August. 

Ich werfe einen Blick in meine Statistik der letzten Monate. Im Schnitt bin ich seit März 55 Kilometer pro Woche gelaufen. Das ist schon mal eine gute Basis. Gut, mit den langen Läufen habe ich mich in den letzten Wochen, besonders seit es so heiß wurde, schwergetan.

Ich konnte mich motivieren, morgens um halb 6 aufzustehen, und die bereits um 6 Uhr menschenüberfüllten Strände abzulaufen, aber länger als 16 Kilometer schaffte ich es nicht. Der letzte längere Lauf über 20 Kilometer war Anfang Juni im Rahmen des Hergla Trail Sousse Halbmarathon, den ich gewann.

Ich war noch nie eine Verfechterin von endlosem Kilometerschrubben, schon gar nicht für Ultramarathons zwischen 50-80 Kilometern und vielleicht wäre im Rückblick der ein oder andere längere Lauf doch gut gewesen.

Wie immer vertraue ich auf die letzten Jahre mehr oder weniger kontinuierlichen Trainings und dass ich davon zehren kann. Für einen 100km-Lauf wäre ich definitiv zu untrainiert, da gibt es nix dran zu rütteln, aber 70 km, das traute ich mir zu, auch wenn es nicht leicht sein würde und ich mir solch eine Distanz auch nicht einfach aus der linken Pobacke schüttele. 

25. Juli 2023

Es gibt Nächte, in denen ich schon deutlich besser geschlafen habe. Ich bin oft gestresst, wenn ich gerädert aufwache und es eine Weile dauert, bis eine gewisse Schwere aus Kopf und Körper weicht. Doch der Schlafmangel, der sich auch über die kommenden Tage fortsetzen sollte, beflügelte mich eher.

Ich denke fast Tag und Nacht an den Salzsee, stelle mir schon in Details vor, wie ich dort laufe, was ich sehe, wahrnehme. Als Referenz dienen mir nur die Fotos, die Amir mir geschickt hat. Auf einem ist der Boden sehr gut zu sehen, rissig-bröckelige Erde und seine Schuhabdrücke. Ist wohl doch eine weichere Angelegenheit als vermutet.

Das Laufen auf hartem Untergrund bin ich gewohnt, bis auf ein paar Abschnitte, die ich direkt am Strand laufe. Auch da variiert die Härte des Sandes teils sehr, von weich (einen Schritt vor, zwei zurück) bis hart, schwammig und uneben, bestes Training für die Koordination und Stärkung der Knöchel. 

Bei einem weiteren Blick in die Statistik wird mir klar, dass der 3-wöchige Intervallblock vom 29. Juni bis 20. Juli ideal war. Ich spürte deutlich, dass ich ein schnelleres Grundtempo auf die Straße brachte und ich im Schnitt etwa 12 Sekunden schneller bei einem lockeren Lauf lief als noch vor ein paar Wochen. 

Die kommenden vier Wochen würde ich dazu nutzen, vor allem gesund und verletzungsfrei zu bleiben. Eine 10-tägige Reise nach Deutschland stand ja auch bald an, irgendwie würde ich schon ein paar gute Einheiten in den Bergen, in Garmisch, unterbekommen, schließlich reise ich das erste Mal seit Längerem allein ohne meine beiden Männer! 

Und in Baden-Baden warteten schon meine mir so lieb gewonnenen Trails im Wald darauf, wieder gelaufen zu werden. In dieser wunderschönen, immerzu sattgrünen Stadt am Fuße des Schwarzwaldes hatte ich jahrelang den Grundstein für das Laufen in den Bergen gelegt.

Baden-Baden ist gespickt mit zahlreichen Trails und Wäldern und es geht immer hoch und runter. Ich freue mich auf die Unterbrechung meiner Routine in Tunesien, die Flucht von der schwülen Hitze, auf frischen Wind und einen letzten, kleinen Feinschliff. 

26.- 28. Juli 2023

Ein Roadtrip mit meiner kanadischen Freundin Juanita steht an. Mit ihrem Jeep fahren wir morgens los, knapp fünf Stunden in die Wüstenstadt Douz. Schon auf dem Weg gibt es immer diesen magischen Übergang bei der Stadt Gabes, wo sich plötzlich, wie durch eine unsichtbare Linie, die Landschaft komplett ändert, das Licht anders ist und die Luft staubiger wird. 

Juanita zeigt mir ihr Haus, dass sie am Rande einer Oase vor nunmehr siebzehn Jahren bauen ließ und eben auch seit ein paar Jahren teilweise in Mahdia lebt. Spannend, verschiedene Lebensgeschichten zu erfahren und mit ihr eine Freundin zu haben, die anders lebt, die nicht im Mainstream mitschwimmt. 

Ich erlebe meinen ersten Kamelritt, genieße die staubtrockene Hitze, die so viel erträglicher ist und gemütliche Abende mit Weißwein und leckerem Essen auf ihrer Terrasse. Meine Laufsachen habe ich zu Hause gelassen, dafür den Laptop eingesteckt, um weiter an meinen Listen zu feilen, Dinge zum Solocrossing zu notieren, die mir einfallen.

Am zweiten Abend gibt es was zu feiern. Unser gemeinsamer Retreat im November, exklusiv für Frauen, ist bereits nach 48 Stunden ausgebucht. Und später am Abend erzähle ich Juanita von meinem Vorhaben.

Ich komme mir fast ein bisschen größenwahnsinnig vor. Sie schlägt vor, ein Crowdfunding auf die Beine zu stellen. Das habe bei ihr auch, in einer anderen Sache, gefruchtet. Ich möchte versuchen, mit dem Projekt an die Öffentlichkeit zu gehen.

Gern bin ich in der Position des Underdogs und erzähle lieber nicht allen Leuten von meinen läuferischen Vorhaben.

Doch warum nicht mal was anderes versuchen?

Das Alte, Bekannte kenne ich ja schon. Hat funktioniert und was, wenn es diesmal auch klappt, und sogar besser?

Ich muss dafür über meinen Schatten springen und riskieren, im Falle eines Scheiterns im berühmten worst case scenario doof dazustehen. Doch auch das wäre menschlich. Und wenn die Chance, es nicht zu schaffen, das einzig Schlimme wäre, ja, dann wäre es eben so. Das Leben ginge weiter und ich würde es im kommenden Jahr eben nochmal versuchen. 

Alles ist immer nur ein Experiment. Diese Perspektive nimmt mir Druck. 

Ich recherchiere verschiedene Crowdfunding-Plattformen und setze einen Entwurf auf. Nie im Leben, da bin ich mir sicher, kommen so 1000 EUR zusammen.

Der größte Kostenpunkt ist die Logistik und Organisation mit einem Quad-Team. Ich wäre schon mit der Hälfte an Spenden mehr als zufrieden, könnte diese irrsinnige Unternehmung auch selbst berappen, bin aber viel neugieriger, auf welche Resonanz das Crowdfunding stoßen würde. 

30. Juli 2023

Ich launche nach einigem Getüftel meine Kampagne mit dem reißerischen Titel “I solocross Africa's biggest saltlake as 1st woman”. Richtig sollte es „North Africa´s biggest salt lake“ heißen, aber mehr Zeichen waren im Titel nicht erlaubt. Ich saß eine gefühlte Ewigkeit allein an der Formulierung und formulierte ihn auf Englisch, da mir eine Bekannte aus Frankreich zusicherte, die Kampagne in ihrem Umfeld zu teilen und da wäre Englisch besser. 

Ich stelle die Kampagne im WhatsApp Status meiner beiden Handys ein, auch auf Facebook und LinkedIn. Kurze Zeit später kommt schon die erste Spende und die Kampagne kommt ins Rollen. Bis kurz vor Beginn meines Laufs sollten 1.080 EUR von insgesamt elf großzügigen Unterstützern zusammenkommen. Mehr als ich erhofft hatte. Ich bin überwältigt. 

Noch 4 Wochen. Und ein Berg an Aufgaben vor der Nase.

Ich fange an Wetterdaten zu recherchieren, fertige Screenshots an, analysiere, mit welchen Temperaturen ich nachts ungefähr rechnen muss. Finde heraus, woher die Winde in der Regel Ende August wehen und gehe ganz darin auf, mich ausreichend zu informieren, wieder ein nicht ganz unerhebliches Puzzleteilchen anfügen zu können.  

31. Juli 2023

Gute Kontakte halte ich mir immer warm. Über all die Jahre im Sport und besonders in der Zeit in Garmisch lernte ich viele interessante Menschen kennen. Nicht nur da. Auch auf Messen, bei Trailrunning Veranstaltungen und Workshops. Oft boten sich neue Möglichkeiten, mit Menschen aus der Branche Trailrunning ins Gespräch zu kommen.

Im Sommer 2022 wurde ich von einer Agentur für die Moderation einer Abendveranstaltung mit einer Profiläuferin im The North Face Shop in Hamburg engagiert. Daraus ergab sich ein Kontakt, der mir für dieses Projekt Gold wert sein sollte.

Ich schreibe Jack eine kurze E-Mail und beschreibe ihm mein Vorhaben. Drei Tage später flattert eine Mail in mein Postfach. Er hatte meine Idee und Anfrage eines Sponsorings weitergeleitet. Katharina war begeistert und forderte mich auf, ihr einfach eine Liste an den Dingen zu schicken, die ich brauche.

Gesagt, getan. Das Paket von The North Face machte sich kurze Zeit später auf den Weg von Bergamo nach Garmisch, wo ich es vorfreudig eine Woche später bei einer Freundin in Empfang nehmen würde, da ich auf meinem Deutschlandtrip einen kleinen Zwischenstopp in Garmisch einlegen wollte.

Dann schreibe ich Miloud, dem erfahrenen Mann mit den Quads und eigener Agentur in Tozeur, dem Zielort im Norden des Salzsees, eine WhatsApp. Er ist auch beim Ultra Mirage als Streckenkoordinator und Organisator verantwortlich und bedankt sich für mein Vertrauen. Wir vereinbaren den Termin für den Start Ende August fix.

Hotel und Mietauto müssen noch gebucht werden. Da habe ich schon eine Idee, wie sich das durch Sponsoren abdecken ließe.

Puh, aufregend alles. Es läuft, ohne Widerstände und die Organisation geht mir bisher leicht von der Hand. Es beflügelt mich zu sehen, wie sich wieder ein Puzzleteil ans nächste fügt und alles Form annimmt.

Zwischendurch bleibe ich auch mit Amir in Kontakt, stelle die ein oder andere Frage. Und arbeite weiter an meinen Listen. Je mehr ich darüber nachdenke, wie Amir vorgegangen ist, desto klarer wird mir, dass ich ein paar Dinge anders gestalten und planen werde. Ich bitte ihn um den GPX track, um die genaue Route auf meine Uhr zu laden. Und bin noch etwas hin- und hergerissen, ob ich noch zusätzlich einen GPS-Tracker bestellen soll.

Nach meinen ersten Recherchen bei eBay hatte ich dann doch davon abgelassen, weil ich meine Begleiter immer in sichtbarem Abstand haben möchte. Für mich ist die Vorstellung, dass ein Quad fünf oder zehn Kilometer vorfährt und ich mutterseelenallein durch die Nacht irre, furchteinflößend.

Ich möchte die Strecke meistern und mich dabei wohlfühlen. Die Kombination aus völliger Einsamkeit, niemanden in der Nähe zu wissen, mich einzig auf das reibungslose Funktionieren der Technik, meiner Uhr, zu verlassen, ist mir zu heikel.

Und damit wird mir ein weiterer Aspekt, vielleicht sogar ein Vorteil, von selbstgeplanten Projekten klar: man hat eine gewisse Bewegungsfreiheit, einen Rahmen, in dem man sich bewegen kann, wie es sich richtig und am besten anfühlt.

Mein Anspruch ist, mich einigermaßen wohlzufühlen, eingebettet in ein kleines Team zu sein und den Weg gemeinsam zu bestreiten, auch wenn ich die Einzige sein werde, die läuft.

3. August 2023

Florian und Jonas von Sporthunger hatte ich Anfang des Jahres für ein interessantes Gespräch für meinen Podcast vor dem Mikrofon. An diesem Tag setze ich nochmal eine Bestellung ab und denke mir spontan, ob sie nicht Lust hätten, dass ich ihr Logo auf meinem Laufshirt spazieren trage.

Und so rückt innerhalb weniger Augenblicke der zweite Sponsor ins Bild, ohne dass ich das vorher durchgeplant hätte.

Es geschieht auch etwas Positives in einer Angelegenheit, an der ich seit fast einem Jahr werkele und bei der es einfach nicht weiterging. Von einem Tag zum anderen ist die Sache durch, erledigt. Haken dran. Mir ist nach Feiern.

Am Abend genieße ich ein Glas kühlen, tunesischen Weißwein. Die Zeiten, in denen ich mich kasteie, mir viel versage, in einer übersteigerten Disziplin lebe, sind vorbei. Ein Gläschen in Ehren, oder auch zwei, werden mir keinen Zacken aus der Krone brechen.

Volle Kraft voraus!

6. August 2023

Das Training läuft und jetzt, wo es täglich immer heißer und die Luft drückender wird, freue ich mich, den Koffer für meinen Trip nach Deutschland zu packen. Am Morgen laufe ich nochmal ein paar kurze Intervalle auf der Straße, die zum Leuchtturm hochführt, fast 25 Sekunden lang ist der Anstieg, wenn ich aufs Tempo drücke.

Ich fokussiere immer die kleine Mülltonne am linken Straßenrand und seufze erleichtert, wenn ich sie wieder erreiche. Kurze Intervalle scheinen oft harmlos, sind aber das Gegenteil. Hart und herzlich. Zu Hause bemerke ich prompt, dass es mir in den hinteren rechten Oberschenkel gefahren ist, eine kleine Zerrung vielleicht. Doof.

Erste Maßnahme: ruhen. Davon würde ich die kommenden zwei Tage eh genug bekommen.

Nachmittags breche ich nach Tunis auf und bin unterwegs sentimental, denke an die vielen schönen Trips mit meinem Auto, das ich nun aus dem Land bringen muss. Aber ein Ende ist gleichzeitig immer auch ein Anfang von etwas Neuem.

Die Überfahrt nach Italien dauert fast genau 24 Stunden, danach düse ich direkt weiter nach Garmisch, genieße unterwegs einige Stopps an Autogrills. Welch ein Luxus, mal wieder einen richtig guten Espresso zu trinken.

Das viele Sitzen ist zwar nicht so erquickend, aber mein Oberschenkel dankt es mir, als ich nach zwei Tagen unterwegs sein und der kleinen Zwangspause zu einem Waldlauf mit einigen Höhenmetern aufbreche und mich treiben lasse. Die frische Luft tut gut und der Nieselregen auch.

10. August 2023

Die Tage in Garmisch vergehen wie im Flug, meine Liste derer Freunde, die ich unbedingt besuchen, sprechen und sehen wollte, schrumpft auf ein paar wenige. Ich setze Prioritäten und entscheide, nur die Leute zu sehen mit denen ich in den vergangenen elf Monaten auch enger und regelmäßiger in Kontakt stand.

So ist das, wenn man wegzieht.

Es wird schwieriger, Freundschaften zu halten, nur der Kern bleibt bestehen. Seit meinem Wegzug aus den Bergen fand eine natürliche Auslese meiner Freunde statt. Nicht für alle nehme ich mir Zeit, und umgekehrt verhält es sich ähnlich.

Damit entsteht gleichzeitig mehr Raum für neue Begegnungen am neuen Ort, so meine Erfahrung meiner zahlreichen Umzüge, die auch manchmal innerhalb von Städten stattgefunden haben. Es müssten mittlerweile an die zwanzig Wohnortswechsel sein.

Das moderne Nomadentum passt zu mir.

Ich möchte Neues entdecken, nicht im ein- und demselben Reihenhaus mit geschniegeltem Vorgarten mein Leben lang existieren. Das Laufen spiegelt mein Leben wider. In Bewegung bleiben, weiterkommen, neue Wege probieren.

Wichtig ist mir auch, in Garmisch Zeit allein in der Natur zu verbringen und für meine Salzseedurchquerung zu trainieren.

In einem Lager etwas außerhalb der Stadt befinden sich noch ein paar Umzugskartons und ein Satz Winterreifen, den ich meiner Tochter mitbringen will. Auch dafür plane ich Zeit ein. Langeweile kommt jedenfalls nicht auf.

Nachmittags erhalte ich per E-Mail die freudige Benachrichtigung, dass das Paket von The North Face bei meiner Freundin angekommen sei. Doch das Paket ist unauffindbar. Irgendetwas stimmt nicht und ich hänge mich in die Hotline des Kurierunternehmens.

Es dauert ewig, bis ich jemanden an die Strippe bekomme. Und erst Stunden später wird klar, dass das Paket nach Penzberg geliefert wurde, in das Lager einer Agentur, deren Inhaberin ich zudem kenne. Ich telefoniere mit ihr nach Jahren das erste Mal wieder und nehme dafür das falsch zugestellte Paket zum Anlass.

Wiederum ein paar Tage später, als ich schon in Baden-Baden bin, stellt sich heraus, dass das Paket auch von Penzberg nicht per Expresslieferung nach Baden-Baden geschickt werden kann, da in Bayern ein Feiertag ist und ich bald schon wieder abfliege.

Wieder so ein Test des Universums!

In tunesischer Manier denke ich mir, wird schon, es gibt eine Lösung und ich werde die Sachen rechtzeitig erhalten, um zumindest die Schuhe noch etwas einzulaufen. Eine Entscheidung muss her und das Paket wird nach dem Feiertag von Penzberg nach Garmisch gekarrt, diesmal wirklich zu meiner Freundin.

Die Kurstadt lässt mich richtig aufblühen. Ich liebe die Atmosphäre dort, die Natur, die die ganze Stadt umrahmt. Gleich vier persönliche Trainings mit Kunden stehen an und ich freue mich nicht nur, den Läufern weiterhelfen zu können, sondern zudem einen netten Trainingseffekt zu erzielen.

An einem Tag kommen so schon mal auf zwei Läufe verteilt 30 Kilometer zusammen, die ich überraschend gut wegstecke. Besonders schöne Momente erlebe ich bei einem Grillabend an einem lauen Sommerabend im Kreise von Familie und Verwandtschaft. Mit Baden-Baden verbinde ich Heimatgefühle.

Bereits in meiner Kindheit jagte ich auf den Plätzen im Kurpark den Tauben hinterher, hier lebten auch meine Großeltern väterlicherseits und immer, wenn ich dort bin, staube ich beim Lieblingseiscafé meines Vaters von ganz früher eine Kugel ab. Es tut auch gut, für mein Projekt viele bestärkende Worte von meiner Familie zu bekommen.

Nichts kann im Fall einer akuten Verzweiflung und der Frage, die sich früher oder später in einem Ultramarathon stellt – weiterlaufen oder nicht? – alles wett machen wie sich die Zuversicht und den Glauben, den einem andere entgegenbringen, in Erinnerung zu rufen, so dass Aufgeben zur allerletzten Option wird.

16. August 2023

Ich fühle mich ein ganzes Stück entfernt vom Leben in Tunesien. Ich wandle in einer Parallelwelt in Deutschland.

Es wird real! Nur noch 12 Tage.

Die Planung kleinerer Details läuft weiterhin, und manchmal wache ich morgens auf und ein kleiner Schrecken durchfährt mich.  

Bin ich doch zu naiv, nehme das ganze Projekt zu sehr auf die kalte Schulter?

Mute ich mir vielleicht doch zu viel zu?

Ein emotionales Auf und Ab. Und immer wieder der beruhigende Gedanke: am Ende des Tages ist es egal. Es geht nur um einen Versuch. Wenn es nicht klappt, dann vielleicht nächstes Jahr.

Amir brauchte zwei Versuche und selbst beim zweiten, als er die Traverse schaffte, hat er viel gelitten. Wie sich leiden anfühlt, das wusste ich, mehr als genug, aus vergangenen Ultramarathons.

Es würde schon werden, ich gewann wieder an Zuversicht und in so manchen Momenten spürte ich wieder große Aufregung im Bauch.

Und was, wenn sich alles als machbar entpuppt und ich mir wieder mal viel zu viele Gedanken gemacht hatte? Ich sollte es noch früh genug herausfinden.

Nachdem ich nun an diesem warmen Sommertag meiner ältesten Tochter in Frankfurt mein Auto überlasse und ich mich tränenreich von ihr verabschieden muss, treffe ich nachmittags Andrea Philippi vom Fremdenverkehrsamt, die ich seit über einem Jahr kenne und mir Unterstützung zugesagt hatte.

Sie sorgt für zwei Übernachtungen in einem 5-Sterne Hotel in Tozeur und einen Kontakt zur Presse. Ja, ich gehe voll rein, und rufe in die Welt hinaus, was ich vorhabe. Es braucht viel Kraft und meine Beherztheit, diese neue Herangehensweise zu praktizieren.

Die Worte aus meiner seit mittlerweile anderthalb Jahren andauernden Psychotherapie finden wieder den Weg in mein Bewusstsein: Dinge anders machen!

Genau das ist es. Denn wie das Alte geht, weiß ich ja schon.

Nach wie vor ist die Neugier auf das Solocrossing groß, die Menschen haben viel Interesse. Am nächsten Tag fliege ich nach Tunesien zurück. Es tut gut, wieder in meiner mir mittlerweile so gewohnten und heimeligen Umgebung zu sein.

Ich freue mich, nach zehn Tagen wieder zu Hause im eigenen Bett zu schlafen und genieße nach meiner Ankunft nichts mehr als in Ruhe im Haus herum zu wurschteln, mir einen leckeren Kaffee aus der Maschine zu kredenzen und mein Gepäck wieder in den Schrank zu räumen.

Tibor, einer meiner Männer, liegt etwas beleidigt auf seinem Platz und zeigt mir die kalte Schulter. Die sensible Seele braucht meist ein bis zwei Tage, bis er versteht, dass ich nicht gleich wieder weggehe.

20. August 2023

44. Und vielleicht Halbzeit. Ich fühle mich fit wie nie, gut in meinem Körper, zufrieden und noch längst nicht übern Zenit und habe in den kommenden Jahren läuferisch noch viel vor.

Am Abend meines Geburtstags mit einem kleinen Umtrunk auf unserer Dachterrasse beschließe ich das letzte Glas Weißwein zu trinken und bis zum Lauf eine Alkoholpause einzulegen.

Die Disziplin ruft. Das Vorbereiten auf einen Ultra hat nette Nebeneffekte. Man lernt abzuwägen, was wann wichtig ist und wann man die Leinen etwas lockerlassen kann. In dieser Phase benötige ich geistige Klarheit und die körperliche Bereitschaft, alles zum richtigen Zeitpunkt abrufen zu können.

Das Training dient der reinen Aufrechterhaltung der Fitness, es gibt jetzt nichts mehr zu holen. Diesen Satz hören die Kunden im Coaching auch öfters von mir, wenn sie in der Woche vor einem Wettkampf noch letzte, anstrengende Einheiten laufen wollen. Dabei würde das Verletzungsrisiko steigen. Ich halte es genauso, laufe noch ein paar Mal und baue hier und da ein paar kurze Intervalle und Steigerungen ein.

Ob der hintere Oberschenkel hält?

Meist schlägt mein Körper seine Schnippchen in den Tagen vor einem wichtigen Lauf. Da kann im Training alles rund laufen und ruckzuck, passiert etwas Dummes, mit dem ich nicht gerechnet hatte.

Erkältung, Zerrung, beim Spazierengehen über ein Kopfsteinpflaster umknicken. Das ist die Phase, in der ich bewusster durch den Alltag gehe, Treppenstufen achtsamer nehme und auch sonst nicht alles eilig erledige, sondern mit einer Portion Muse.

Oft werde ich hier auf Deutsch von Tunesiern angesprochen. Ich frage mich dann, was es an mir ist das „deutsch“ aussieht und komme zu dem Schluss, dass es der Gang sein muss. Wir – Deutschen - legen in der Regel diesen Stechschritt an den Tag. Und manchmal höre ich sie lächelnd hinterherrufen, „immer eilig, Madame.“

Ich nehme das als Ruf, einen Gang langsamer zu machen. Mich etwas anzupassen. Zu schlendern, es weniger eilig zu haben. Hat auch etwas Gutes. Es bleibt Zeit, auch nach links und rechts zu schauen.

Das Paket. Da war doch noch was. Mittags fahre ich mit Nesh´s Schwester Sarra, die mich zudem tatkräftig moralisch bei meinem Lauf unterstützen wird, nach Hergla, einer kleinen Stadt etwa zwei Stunden von Mahdia entfernt.

Tage zuvor erfuhr ich über die berühmten fünf Ecken, dass der Bruder eines Freundes von Nesh am 18. August per Auto und Fähre nach Hergla kommen würde. Und dieser wohnt ausgerechnet in Garmisch, so dass er das Paket nur bei meiner Freundin abholen musste. Da war sie, die Lösung, der Plan B, der in Tunesien fast ausnahmslos immer greift.

An diesem schönen Geburtstagsnachmittag öffne ich den Karton in aller Ruhe zu Hause und glaube nicht, was ich alles herausziehe. Alles passt wie angegossen, die Materialen fühlen sich leicht und angenehm auf der Haut an. Und endlich trage ich eine Laufshorts, die bequem sitzt und in meiner nicht vorhandenen Taille nichts einschneidet.

Als beinah schon der Abend heranbricht, wage ich noch ein kleines Läufchen im Vectiv Eminus, der gleich wie angegossen sitzt. Ich hatte drei verschiedene Modelle gewählt, jeweils eine Nummer größer. Hitze weitet die Füße ungemein, besonders dann, wenn der Boden eine Temperatur von 40 Grad+ hat. Das Mehr an Bewegungsfreiraum sollte mir auf dem Salzsee auf jeden Fall zugutekommen.

23. August 2023

Ich lade mir die Windy app herunter, was Professionelles mit sehr detaillierten Prognosen. Und sehe, dass in Tozeur etwas Regen in den kommenden Tagen vorausgesagt ist. Doch nicht jetzt!

Ich werde leicht nervös und denke mir wieder: atmen, alles wird gut!

Windy zeigt mir auch an, dass die Temperaturen abends um 22 Uhr auf 28 Grad absinken werden, um 4 Uhr morgens sogar auf 25 Grad. Ich rechne dennoch lieber mit mehr und stelle mich darauf ein, dass es gerade in den ersten zwei bis drei Stunden nach dem Start wärmer sein wird und dass ich von Anfang an darauf achten muss, genug zu trinken sowie Kopf und Nacken kühl zu halten.

Der Wind wird aus Nordost blasen, was bedeutet, dass ich im besten Fall stets eine leichte Brise seitlich von rechts abbekomme. Perfekt!

Ich sende Miloud eine Nachricht, wie viel Wasser ich benötige und greife extra hoch. Acht Stunden Laufen mit je 3 Litern pro Stunde bedeutet einen 24 Liter Wasservorrat, vier Sechserpacken und einen Liter Cola dazu. Cola ist immer der Lebensretter, wenn nichts mehr geht.

Ich kalkuliere zwischen 800-1000 ml zum Auffüllen meiner Flasks plus eine große Flasche Wasser zum Kühlen von Kopf und Körper. Ich brauche die Sicherheit im Hinterkopf, dass mehr als genug Wasser vorrätig ist. Doch es sollte ganz anders kommen.

26. August 2023

Samstag morgen. Ein letzter Lauf vor dem Ultra, entlang der Promenade und eine kleine Runde am Friedhof hoch zum Leuchtturm. Ich raffe mich nochmal zu ein paar Intervallen auf, kurze Aktivierungen, die oft mehr dem guten Gefühl dienen als einen echten Effekt zu haben.

Ein letztes Mal noch tauche ich im Meer ab, atme ein paar Mal tief durch. Alles wird gut, und alles ist schon gut. Ich bin gesund, fühle mich fit und bereit. Endlich soll es losgehen.

Nach der Dusche ist es wieder da, ein Ziehen im hinteren rechten Oberschenkel. Mist, doch nicht jetzt! Alles andere, nur nicht das.

Kurz fällt mein Kartenhaus im Kopf zusammen. Gerade wähnten sich noch alle Schäfchen im Trockenen und jetzt so ein Malheur. Es fällt mir schwer das zu akzeptieren. Panisch reibe ich etwas Voltarensalbe auf die Stelle und massiere den langen Muskelstrang.

Ich spüre das Ziehen bis fast in den Popo, unangenehm. Kann doch nicht sein. Spontan entscheide ich mich, eine 400er Ibuprofen einzuwerfen, was mir zwar widerstrebt und ich alles andere als ein Pillenschlucker bin, aber versuchen will ich es als letzte Maßnahme in einem leichten Anflug aufkeimender Panik.

Eine echte Probe, ein Test: wie sehr willst du es wirklich, Anna?

Zumindest bilde ich mir in diesem Moment ein, dass eine äußere Kraft oder Energie mir so eine Aufgabe vor die Füße wirft. Atmen, ruhig bleiben. Matte ausbreiten und mit dem Duo Ball und der Blackroll ein wenig rollen. Das mache ich für einige Minuten und eine Besserung ist spürbar.

Beim Ultra Trail Gazelles Sahara Ultramarathon im Februar über 70 km bekam ich ein paar Tage vorher ein diffuses Ziehen im unteren linken Fuß. Das verschwand dann urplötzlich mit dem Startschuss.

Ich vertraue darauf, dass in 48 Stunden alles wie weggeblasen sein wird.

Nachmittags mache ich letzte Besorgungen und packe die Reisetasche. Aufgeregt hake ich in der Notizenapp eins nach dem anderen ab.

Noch nicht mal mehr zwei Tage.

27. August 2023

Nach einer unruhigen Nacht und viel hin und her wälzen wollen wir früh zu unserem Abenteuer aufbrechen. Sarra, Nesh´s Schwester, rollt gegen neun Uhr an. Nesh kann das Mietauto erst um zehn Uhr holen und wir müssen Tibor noch bei Inge abgeben.

Egal wie viel Trubel ist, er bewahrt immer die Ruhe und beobachtet jeden unserer Schritte ganz genau. Er merkt, dass was im Busch ist, lässt es sich aber nicht durch aufgeregtes Tänzeln, Hecheln oder sich geschickt vor der Tür platzieren anmerken. Er ist einfach die Ruhe in Person, vielmehr Hund.

Kurz vor elf Uhr sind wir endlich auf dem Weg Richtung Autobahn. Wir haben 450 Kilometer bis Tozeur vor uns, einer Wüstenstadt nordwestlich oberhalb des Sees gelegen. Ich versuche immer wieder mal einzunicken.

Pustekuchen. Die vorbeiziehende Landschaft ist viel zu interessant und als wir die Stadt Gabes passieren ist da wieder dieser magische Übergang vom Grünen ins staubtrockene Etwas, von jetzt auf gleich sieht die Landschaft anders aus und das Licht scheint auch verändert. Hier geht mir jedes Mal das Herz von Neuem auf.

Wir machen einen kleinen Kaffeestopp. Die Anzeige im Auto zeigt 43 Grad Außentemperatur an. Beim Öffnen der Autotür weht mir ein heißer Wind ins Gesicht und die Haut fängt leicht an zu kribbeln. Man könnte auch gleich einen Fön nehmen und ihn auf höchster Stufe ins Gesicht pusten.

Unvorstellbar, auf dem Salzsee auch nur einen Kilometer bei dieser Bruthitze zu laufen. Und vielleicht ist das auch besser für den Kopf. Ich erinnere mich an die Aussage einer Freundin: „Einen Tod musst du halt sterben.“

Entscheidet man sich für das eine, geht etwas anderes dafür nicht. Recht hat sie. Dieser Satz begleitet mich immer wieder in verschiedenen Situationen.

So fiel dann auch die Entscheidung für den Nachtlauf, auch wenn ich dafür nicht in die Landschaft würde blicken können.

Wir treten aus dem blitzsauberen Café hinaus und fahren weiter, bis wir östlich des Sees auf die Schnellstraße P 16 gelangen. Ich blicke nach links und denke nur, au weia, nur einen Tag später werde ich in dieser unendlichen Weite laufen. Nesh fährt irgendwann rechts ran und dreht ein kurzes Video mit der Handykamera.

Nach ein paar Kilometern sehen wir, dass der See an einigen Stellen am Rand sehr matschig und feucht aussieht. Im Wetterbericht war die Rede von ein paar Schauern gewesen.

Ich blicke nach links und denke mir, dass es etwa 20 Kilometer weiter östlich ganz anders aussehen würde, sicherlich trocken. Wir rufen Miloud an and haken nach. Scheinbar ist alles auf der geplanten Routen trocken, am Montagvormittag wolle er die Route abfahren und alles checken.

Kurz macht sich Enttäuschung breit. Was, wenn doch alles umsonst war? Die Vorbereitung, die Anreise, überhaupt der ganze Aufwand, den ich in den letzten Wochen betrieben hatte?

Am späteren Nachmittag kommen wir endlich an. Andrea von Discover Tunisia hat zwei Übernachtungen in einem sehr schicken Hotel organisiert, dem Palm Beach Palace Tozeur. Nach einem sehr willkommenen Empfang durch die Damen an der Rezeption werden wir ins VIP-Zimmer geführt, wo erst mal ein Gläschen Citronade gereicht wird. So erfrischend!

Und dann bekomme ich doch glatt einen schönen Blumenstrauß vom Hoteldirektor persönlich überreicht. Mit so einem Überschwang hatte ich nicht gerechnet und schon gar nicht damit, wenige Minuten später in eine geräumige Suite des Palm Beach Palace Hotels geführt zu werden.

Auf dem Wohnzimmertisch ist ein überdimensional großer Obstkorb platziert, Besteck, Gläser und Nüsse stehen als Snacks bereit. Auf dem Schreibtisch liegt ein Brief, extra auf Deutsch geschrieben, rührende Worte. Ich kenne einige Hotels in Tozeur, doch das hier ist mit Abstand das Beste.

Auch das Essen am Buffet überzeugt. Ich wähle, was mir bekannt ist. Bloß keine Experimente mit Fisch oder anderen Leckereien machen, die verlockend lecker aussehen. Noch ist mein Appetit da und noch bekomme ich eine gute Portion hinunter.

Später am Abend bitte ich Nesh, mir den hinteren Oberschenkel, der immer noch ein wenig muckt, zu tapen. Der Effekt geht praktisch gegen Null, aber der Placebo-Effekt wirkt.

Nach unserer Ankunft in Tozeur hatte ich meiner Freundin Simone mein kleines Leid geklagt und sie um last minute Tipps gebeten, schließlich ist sie seit Jahrzehnten Läuferin und auch auf den Ultratrails zu Hause. Weniger ist mehr, also nicht zu viel rollen und dehnen, lediglich die Stelle etwas ausmassieren.

Gut, dass ich mein Gelenkwohlöl von Primavera noch eingepackt hatte. Tatsächlich, es wirkt Wunder und die Kombination aus Öl und Tape hilft. Manchmal sind es die offensichtlichen Dinge bzw. Maßnahmen, auf die man in entscheidenden Momenten nicht kommt, weil man zu sehr verknotet ist.

Noch 1 Tag.

28. August 2023

Nach einer rastlosen Nacht bricht der neue Tag heran. Ich war mehrmals mitten in der Nacht aufgewacht, teils nervös, mit einem Gang auf die Toilette. Ich würde nachmittags versuchen, mich nochmal aufs Ohr zu legen.

Die Sonne blitzt durch den Gardinenspalt. Es steht einiges auf dem Programm an diesem Morgen. Wir treffen Sarra zum Frühstück in dem hellen, sauberen und schön möblierten Saal. Alles ist so appetitlich angerichtet und ich muss(!) ein paar Kalorien herunterwürgen, auch wenn mir Magen und Hals wie zugeschnürt scheinen. Ein paar Schlucke Kaffee später beiße ich kleine Stücke des Baguettes ab, beschmiert mit Butter und Marmelade. Mehr geht nicht.

Etwa eine Stunde später rückt ein Team vom Fernsehen an und eigens dafür wird eine Wand im Eingangsbereich aufgebaut. Im Hintergrund plätschern kleine Wasserfälle und in der Mitte thront ein Springbrunnen. Zum Glück kann ich auf Englisch antworten. Auch wenn ich mich mittlerweile auf Französisch ganz okay verständigen kann, bringen mich Gespräche und unerwartete Fragen schnell aus dem Konzept.

Ich kenne den Journalisten vom Ultra Trail Gazelles Rennen, welches im Winter stattfand. Dort hatte er mich auch interviewt. Mir behagt es nicht so ganz, vorab Prognosen zum Solocrossing abzugeben, aber das war nun Teil des Sponsorings und den damit verbundenen Erwartungen.

Sprich und handle, als wäre es bereits geschehen, sage ich mir erneut.

Ich rufe mir diesen hilfreichen, kurzen Satz immer wieder in Erinnerung.

Vom Besten ausgehen und voller Freude sein auf das, was kommt.

Kurz vor Mittag brechen wir in die Stadt auf und besorgen ein paar Flaschen Cola und Kleinigkeiten. Kleine Wasserflaschen hatte ich schon in Mahdia gekauft. In diese würde ich mein Kohlenhydrat-Elektrolyt-Getränkepulver füllen.

Immer wieder greife ich zu einer Wasserflasche und nehme ein paar Schlucke, um gut hydriert zu bleiben. Nachmittags rühre ich mir zwei Portionen des Pulvers, Tailwind, an. Es hat sich bisher immer bewährt, den Mineralstoffhaushalt auf Oberkante zu halten und gleichzeitig flüssige Kalorien aufzunehmen.

Nach dem kleinen Ausflug in die Stadt treffen wir Miloud und sein Team direkt in seinem Büro, um letzte Details zu besprechen. Er bestätigte nochmal, dass ein Mitarbeiter vormittags die Strecke abgefahren sei und es nur auf den letzten Kilometern eine Abweichung gäbe, die Distanz jedoch dieselbe bleibt.

Gut, ich bin beruhigt. Und dieser Service war ja auch in seinem Angebot inbegriffen. Er bietet an, dass ein Fahrer vorneweg fährt und etwa 200-300 Meter Abstand zu mir hält. Immer wenn ich eine Wasserflasche bräuchte, solle ich dem Fahrer einen Wink geben, dieser würde dann eine Flasche abstellen und weiterfahren. Ich solle die Flasche dann wieder abstellen und Nesh könne diese dann ja hinter mir einsammeln.

Nix da. Das macht keinen Sinn. Wir schauen uns leicht stutzig an und schütteln den Kopf. Unsere eigens zurecht gelegte Strategie wollen wir durchziehen. Ein Quad vorn, dann ich, und mit Abstand hinter mir fahren Nesh und Miloud. Wir wollen uns absichern, dass niemand hinterher behaupten kann, ich hätte geschummelt und sei zwischendurch zu Nesh auf den Quad gehüpft!

Man weiß nie, Leute sind skeptisch und manche sind fies.

Miloud sagt noch, dass ein Assistenzfahrzeug die ersten zwanzig Kilometer hinten mitfährt und sich dann alle 10 Kilometer positioniert, falls es mir gesundheitlich plötzlich schlecht gehen sollte. Das klingt in meinen Ohren etwas übertrieben, aber gut, er wird sich schon was dabei gedacht haben.

Es sollte alles ganz anders kommen.

Wir verabschieden uns und vereinbaren, uns um 18:30 Uhr zur Abfahrt zu treffen. Zum Startort sind es immerhin knapp zwei Stunden Fahrt.

Hunger. Der Appetit drückt durch. Im Hotelrestaurant bekommen wir gegen 14 Uhr noch etwas zu essen. Much harra bitte, also nicht scharf, versuche ich dem Kellner zu vermitteln und bekomme wenige Minuten später einen Teller Nudeln mit Tomatensoße serviert, schön scharf.

Da ich scharfes Essen einigermaßen vertrage, esse ich dennoch nicht die ganze Portion, gerade so viel, dass ich satt genug bin. Und dann will ich mich endlich noch etwas ausruhen und strecke im Zimmer alle Viere von mir, um einzudösen.

Der Wecker meines Handys klingelt eine Stunde später. Richtig geschlafen habe ich nicht. Meine Nerven sind leicht flatterig und das während dieser Zyklusphase typische Gefühl, alles stärker wahrzunehmen, blubbert an die Oberfläche.

Noch etwa sechs Stunden, bis ich meinen ersten Schritt auf das Chott setzen werde.

Schnell stehe ich auf und bereite meine Verpflegung vor. In eine Flask fülle ich Wasser und in sechs 500-ml Wasserflaschen löse ich das Tailwindpulver auf, jeweils zwei Messlöffel.

Ich setze seit 2017 auf dieses Produkt und komme damit bei allen Wetterlagen klar. Es spendet schnell Energie und versorgt zudem den Mineralstoffhaushalt. Ich denke, dass mir das Salz des Sees viel aus dem Körper ziehen könnte. Andrea wies mich darauf hin und sollte damit nicht ganz falsch liegen.

Die Flask mit dem Wasser trage ich in der Laufweste und jeweils eine kleine Tailwind-Wasserflasche in der Hand. Oft stört es mich beim Laufen einen Liter Flüssigkeit vor der Brust zu tragen. Wäre ich jetzt minimalistisch unterwegs, was mir geraten wurde, würde ich gar keine Laufweste tragen, sondern nur etwas Wasser mitführen. Das ist mir zu umständlich und ich will so autark wie möglich laufen.

Nesh würde mir einmal pro Stunde eine neue Tailwindflasche reichen und mir helfen, Wasser aufzufüllen.

Am Morgen hatte ich noch 2 Colaflaschen geschüttelt und den Deckel abgenommen, damit die Kohlensäure entweichen kann. Kaum etwas ist während eines Laufs unangenehmer als einen Blähbauch von kohlesäurehaltigen Getränken zu bekommen. Mineralwasser kann erfrischend sein, frisch geöffnete Cola mit viel Blubber vertrage ich schlecht.

Zu meiner Verpflegung gehören auch ein paar Spring Energy Gels, eines davon verstaue ich in der Laufweste. Dabei fällt mir auf, dass ich den Geschmack „salted peanut butter“ gewählt hatte, eigentlich eine blöde Kombination zur Süße des Tailwindpulvers. Auch Geübte machen mal Fehler! Und tatsächlich scheitert meine Verpflegung später im Lauf auch an dieser Wahl.

Zuletzt packe ich noch Salztabletten ein, die eher in die Kategorie Lutschtabletten fallen. Damit habe ich bisher gute Erfahrungen gemacht und ich nehme sie meist als Notfalloption mit, wenn ich merke, dass die Finger zu stark anschwellen. Mit den Saltsticks lässt sich so etwas normalerweise gut regulieren. Normalerweise.

Die Zeit verfliegt wie im Flug. Ich lese noch ein paar WhatsApp Nachrichten und freue mich über die vielen lieben Nachrichten voller bestärkender Worte. Punkt 18 Uhr klopft es an der Tür. Wie mit dem Hoteldirektor vereinbart, bekomme ich eine Portion gekochte Kartoffeln mit etwas Salz zum Abendessen.

Einfach und leicht verdaulich soll es sein. Ganz durch sind sie nicht, die Kartoffeln, aber essbar. Mühsam schiebe ich mir ein paar Stücke in den Mund. Essen an einem Renntag, wenn auch es ja keine offizielle Veranstaltung ist, ist purer Zwang und pures Müssen. Der Körper braucht die Energie, die Kohlenhydratspeicher wollen gefüllt sein.

Ich könnte mich auch einfach zurücklehnen, genießen, alles locker nehmen, doch ich merke, dass für mich Einiges auf dem Spiel steht. Zumindest hat dieses Projekt eine Bedeutung für mich und eher würde ich mich wundern, wenn ich jetzt zu ruhig über meinen Kartoffeln säße.

So viele Menschen sind direkt und indirekt an diesem Projekt beteiligt. So viele wollen, dass ich es schaffe. Zuletzt muss ich selbst am meisten an mich glauben und mich aller Ressourcen, die mir zur Verfügung stehen, bedienen.

Amir sendet eine Videonachricht und wünscht mir viel Erfolg. Das tut gut.

Noch eine Gabel in den Mund geschoben und dann ist es auch schon so weit, mein Outfit anzuziehen, ein letztes Mal die Taschen zu überprüfen und mit Nesh letzte Absprachen zu machen. Er hat sich so viele Gedanken gemacht, an kleine Details gedacht und ich weiß, dass ich auf ihn in jeder Lebenslage zählen kann. Ich bin heilfroh, dass er dabei ist.

18:30 Uhr

Wenig später stehen wir gestriegelt und gebügelt bei Miloud. Er steigt ins Auto ein und weist uns den Weg aus der Stadt Richtung Startort, mitten in der Pampa, am Rande des Salzsees.

Ich schiele auf die Temperaturanzeige im Auto. 34 Grad. Eine Viertelstunde später sind es noch 33 Grad. Puh, hoffentlich kühlt es noch etwas ab, zumindest auf unter 30. Jedes Grad kühler zählt. Miloud meint plötzlich, dass er nicht als Begleiter auf einem Quad mitkommt, sondern ein Mitarbeiter seinen Job übernimmt.

Was?

Wir hatten das alles anders vereinbart. Er erklärte uns, dass er am nächsten Morgen die Leute vom Fernsehen zum Zielpunkt bringen wolle, da sie den Weg nicht allein finden würden. Planänderungen liegen in der Mentalität  der Tunesier und nicht immer ist dies zum Nachteil.

Jedoch sah ich in dieser Ansage für einen kurzen Moment eine Art Bedrohung, eine Unsicherheit. Er, der so erfahren ist und beinah jeden Quadratzentimeter des Chotts auf dem Quad kennt, kommt ausgerechnet jetzt nicht als Begleiter mit?

Ich mache mich so gut es geht nach dieser Mitteilung innerlich frei und habe das Vertrauen, es zu schaffen. Miloud wird schon für einen ordentlichen Ersatzfahrer gesorgt haben. Die Route ist auf meiner Uhr gespeichert, Nesh ist mit von der Partie, alles wird gut.

Der Oberschenkel gibt Ruhe, das Tape erfüllt seinen Zweck.  

21:00 Uhr

Wir kommen nahe El Faouar an, einem kleinen Örtchen am Rande des Salzsees. Der genaue Startpunkt liegt jedoch etwas außerhalb hinter einer Oase, wo auch schon ein Pick-Up sowie drei Quads bereitstehen. Ich öffne die Beifahrertür, blicke ins dunkle Nichts, in das ich in Kürze eintauchen würde.

Und verliere jegliche Reste an Angst und Unsicherheit. Das flaue Gefühl im Magen wird weniger und verschwindet mit jeder Minute ein Stückchen mehr. Ich habe keine Angst mehr.

Ich schlüpfe aus den Badelatschen in die Laufschuhe, setze ein Käppi und die Stirnlampe auf, entscheide mich dann doch für dein Buff um den Kopf, weil mir Stirnlampen immer unangenehm drücken. Puh, zum Glück sind die Temperaturen auf 29 Grad gesunken. Eine leichte Brise weht angenehm von der Seite, fast wie bestellt oder zumindest bestätigt dies die Prognose der windy app.

Fast vergesse ich, noch ein Video für Andrea aufzunehmen, die dies für Discover Tunisia auf den sozialen Medien hochladen will.

Ich bin in diesem Moment so froh, dass ich mich nicht mehr auf Instagram tummele und damit wieder dieses seltsame Gefühl einer selbst auferlegten Verpflichtung einherginge, womöglich zig Stories während des Laufs hochzuladen und gar nicht mehr die Erfahrung bei diesem Lauf im Vordergrund stünde, sondern die eigene Darstellung, also das, was mir bei vielen anderen Menschen in diesem Sport so gegen den Strich geht.

Kurz stelle ich das Team im Video vor. Wir sind bereit, stehen um die Quads herum, packen noch ein paar letzte Dinge in die Boxen. Die Stimmung wandelt sich von angespannt zu ausgelassen. Erst später wird mir Nesh gestehen, dass er vor dem Start richtig unsicher wurde, ob wir das wirklich so packen würden, er als Begleiter mit Quad und ich, die die Strecke laufend zurücklegt. Zum Glück merkte ich ihm nichts an.

Miloud fragt mich mit einem leicht verschmitzten Lächeln: „Hast du Angst?“

Ich verstehe nicht genau, warum er so kurz vor Beginn des Abenteuers so eine Frage stellt. Sicher meint er es gut. Oder ich werde etwas unterschätzt von all den fremden Männer, die um die Fahrzeuge stehen. Kommt da eine Europäerin an und will übers Chott laufen. Viel Glück!

Vielleicht sind es auch nur meine eigenen Gedanken, dass ich öfters im Leben etwas naiv an Dinge herangehe, gern die Position des Underdogs innehabe und dann auf die Kacke haue. Es ist ein inneres Spiel, das ich mit mir selbst ausmache. Große Ziele zu stecken, beflügelt mich, zündet meinen Ehrgeiz an.

Fokus aufs Jetzt.  

21:27 Uhr

Ich drücke den Startknopf meiner Uhr und setze den ersten Schritt auf den Salzsee, drehe mich auch nicht mehr um. Mohammed ist schon ein paar hundert Meter vorausgefahren und ich muss nur den Rücklichtern seines Quads folgen. Nesh und der dritte im Bunde, dessen Namen ich vergessen habe, folgen mir mit etwas Abstand, bis Nesh sich dann an meine Seite gesellt.

Es ist ein irres Gefühl. Endlich darf ich eintauchen in dieses Stück Natur, dass so unwegsam ist und ich später erst verstehe, warum hier kein Lebewesen existieren kann.

Ich laufe die ersten Kilometer locker an und zunächst irritieren mich die vielen Rillen und Furchen auf dem Boden nicht. Die Stirnlampe leuchtet den Weg gut aus. Ich sehe überall Spuren von Quads und Jeeps auf dem Boden und bin mir sicher, dass sich das legt sobald wir ein paar Kilometer zurückgelegt haben.

Die ersten Kilometer auf dem Salzsee

Zum Glück meldet sich der hintere Oberschenkel nicht und ich versuche, so kraftsparend wie möglich unterwegs zu sein.

Nach 15 Minuten vibriert die Uhr, die Erinnerung, Tailwind und Wasser zu trinken. Gut hydriert zu bleiben ist hier oberste Priorität.

Nesh braust begeistert an mir vorbei und fragt mich, wie es mir geht. Gut, sage ich, erst mal locker angehen vom Tempo her. Ich trabe ungefähr im 6:40er Tempo pro Kilometer vor mich hin und komme mir so viel schneller vor. Das unbehagliche Gefühl macht sich in mir breit, dass ich mir kaum vorstellen kann, deutlich schneller zu werden.

Die erste Stunde vergeht rasch und ich bin immer noch dabei, mich einzupendeln und Teil der Strategie im Team zu sein. Das führende Quad macht einen super Job. Mohammed hält genau die richtige Distanz, so dass ich genug Raum für mich habe und auch ein wenig die Stille genießen kann. Nesh und der Dritte im Bunde der Supporter fahren eher seitlich oder diagonal versetzt.

Noch ist mir nicht danach, die Kopfhörer herauszuholen, um Musik oder einen Podcast zu hören. Wieder einmal habe ich mir vorsorglich Episoden verschiedener Podcast Formate gespeichert, ein wilder Mix aus Philosophie, komisch-lustigen Interviews und natürlich die Kaulitz Brüder mit ihrem „Kaulitz Hills – Senf auf Hollywood“.

Die zwei erzählen so verrückte Geschichten aus ihrem Leben und Alltag, dass es schon wieder interessant ist, zuzuhören. Mit dabei auch noch Kurt Krömer´s „Feelings“ und die geschätzte Gabby Reece sowie „Alles gesagt“. Bisher war ich immer erleichtert, zu einem gewissen Zeitpunkt angenehmen Stimmen und Themen lauschen zu können, gerade denn, wenn es etwas zäh wird und einen eine Art Einsamkeit übermannt. Doch es ist noch viel zu früh, mich in andere Welten zu flüchten.

Nach über einer Stunde bedeute ich Nesh mit einem Handzeichen, anzuhalten und mir Wasser zu reichen, das ich in meine Flask fülle. Seine Nähe und bestärkenden Worte tun mir gut. Er reicht mir eine neue Tailwindflasche und nach wenigen Sekunden ist der kleine pit stop erledigt.

Ich kann nie lange anhalten bei Ultramarathons. Kaum bleibe ich länger stehen als nötig, meldet das Hirn kleine irrsinnige Gedanken wie „Setz´dich doch kurz hin“ oder „Ach ruh dich doch noch ein paar Minuten aus, keine Eile!“.  Die Verlockung ist dann groß, und ich widerstehe. Jedes Mal.

Über die vielen Jahre in diesem Sport habe ich mir angewöhnt, so kontinuierlich wie möglich in einem Laufrhythmus zu bleiben und diesen nur so viel wie nötig zu unterbrechen. Pausen und Stopps sind wichtig und das Auffüllen von Flaschen, Nahrung und manchmal auch ein Kleiderwechsel essenziell, um eine durchgehend gute Versorgung zu ermöglichen.

Nach zwei Stunden Laufzeit

Wir sind nun so etwas wie ein eingespieltes Team und fast mutet mir die ganze Equipe als etwas Exquisites an. Es ist ein seltsames Gefühl, dass sich alle wegen mir, weil ich mir diese Idee ausgedacht habe, sich eine ganze Nacht um die Ohren schlagen. Und alles umsonst wäre, wenn ich um… ach nein, schnell Weg mit diesen Gedanken und wieder Konzentration auf den Boden vor mir, der einfach nicht leichter zu laufen werden will.

Die Optimistin in mir gibt die Hoffnung noch nicht auf, dass sich das in ein paar Kilometern schon ändern wird und ich es mal laufen lassen kann. Der Blick auf die Uhr verheißt kein schnelleres Tempo. Im Gegenteil, ich werde langsamer obwohl ich mich gar nicht so fühle. Es ist, als würde ich nicht so richtig vom Fleck kommen und meine Beine keinen schnelleren Laufschritt verwandeln können.

Mühsam geht es vorwärts

Nesh erkennt schnell meine Gemütslage, auch im Dunkeln oder nur im Licht meiner Stirnlampe und seines Abblendlichts merkt er, wann es besser ist, mich aufzuheitern oder lieber nichts zu sagen. Noch bin ich recht locker gestimmt, immerhin habe ich fast schon ein Drittel der Strecke geschafft. In einem Ultramarathon heißt das wiederum auch nicht viel. Es ist jedes Mal ein Überraschungsei.

Der Boden wird die kommenden Kilometer nicht entscheidend besser und ich muss mich damit abfinden, dass es so bleibt, und wenn es dann doch laufbarer wird, ist das ein Bonus.

Kurz wähne ich mich noch in dem Gedanken, nach sieben Stunden in Tozeur, dem Zielort, anzukommen, doch dazu müsste ich deutlich schneller laufen. Und so rückt der Fokus auf eine bestimmte Zielzeit in die Ferne. Ich will das hier durchstehen ohne ein Malheur.

Wie schnell kann ich hier umknicken! Jeder Schritt ist eine potenzielle Gefahr, einmal nicht geschaut und aus die Maus. Tatsächlich vertrete ich mich zwei, drei Mal kurz, aber kann mich davor bewahren, richtig umzuknicken.   

Vielleicht war das Intervalltraining dann doch für die Katz! Hier schneller zu laufen kann ich mir abschminken.

Ich laufe gern zügig durch Landschaften, ob Berge, Wälder oder Wüsten und genieße dann oft einen Flow. Ich bin Läuferin, keine Traberin oder Schnellwanderin. Und will hier auf dem Salzsee nicht so recht auf meine Kosten kommen und bin etwas enttäuscht, nicht ganz vom Fleck zu kommen.

Nach ein paar weiteren Kilometern gesellen sich unangenehme Druckschmerzen dazu. Meine Waden fühlen sich an wie Beton und die äußere Muskulatur der Oberschenkel spannt wie ein Gummiband. Es ist noch auszuhalten, doch ich kenne das Gefühl so nicht von anderen Ultras. Alles neu und anders hier also auf dem Chott El Djerid.

Nach etwa 35 Kilometern

Es fällt mir zunehmend schwerer, mich bei Laune zu halten. Meine mentalen Werkzeuge neigen sich langsam dem Ende. Gerade mal die Hälfte der Strecke ist geschafft.

Wie soll ich nochmal das Doppelte schaffen?

Mein Magen macht mir auch schon seit einer Weile Probleme. Ich merke, dass ich kaum noch Tailwind trinken kann, Wasser nur in geringen Mengen. Zum Glück haben wir an Cola gedacht. Meine vorbereiteten Flaschen sind unauffindbar. Doch im Auto vergessen?

Ich gebe Nesh ein Zeichen und er reicht mir eine kleine Dose Cola. Ich kann nicht viel trinken, da die Kohlensäure sofort den Bauch aufbläht und manchmal beim Weiterlaufen Seitenstechen verursacht.

Ab und zu schiele ich noch auf die Uhr, um das Tempo zu checken und setze mir zum Ziel, bei der 50 km-Marke eine längere Pause einzulegen, bis dahin in Bewegung, im Rhythmus zu bleiben.

Was ein langer Weg!

Im Rhythmus bleiben

Am Horizont taucht plötzlich gut sichtbar eine Reihe Lichter auf. Das kann nur Tozeur sein und ich bin überrascht, wie nah diese Wüstenstadt scheint. Doch die Nacht ist noch lange nicht zu Ende.

Ich setze mich nach der kurzen Pause wieder in Bewegung und mache mich daran, ein Energiegel zu öffnen und zu versuchen, wenigstens das in den Magen zu befördern. Schon eine kleine Menge dreht mir schier den Magen um und ich bin kurz davor, mich übergeben zu müssen.

Schade, normalerweise schmeckt mir diese Sorte, gesalzene Erdnussbutter, gut und ist eine Abwechslung zu den süßen Getränken. Wieder etwas, was nicht funktionieren will, wo doch sonst die Verpflegung das ist, worauf ich mich fast immer gut verlassen kann.

Schnelles Umdenken ist gefragt, nicht enttäuscht sein und weiterlaufen. Ich habe genug Reserven, hatte mich tagsüber gut versorgt, so dass ich noch ein paar Stunden einen kleinen Mangel aushalten würde.

Von Beginn an hatte ich auch auf meine Salz-Lutschtabletten zurückgegriffen, die sonst erfrischend und lecker schmecken. Auch diese lösen beim Versuch, sie in der Backentasche zergehen zu lassen, Brechreiz aus und ich spucke sie wohl oder übel aus. Irgendwie geht es schon weiter. Der Kopf schwankt zwischen Verzweiflung und Vertrauen, ein wildes Hin und Her aus Szenarien.

Kurzum ziehe ich mein Handy aus der Laufweste. Miloud hatte gesagt, dass es überall Empfang gibt. Weit gefehlt und gut, dass wir uns darauf nicht verlassen haben. Hätte ich mich dazu entschieden, mit einem Abstand von mehreren Kilometern auf die Supporter zu treffen und mir wäre etwas passiert, ganz mutterseelenallein, hätte ich niemanden erreichen können.

Es sei denn, ich hätte ein extra Satellitentelefon dabei. Nesh´s Nähe zu wissen ist nach wie vor Balsam für die doch mittlerweile schon leicht angeschlagene Läuferseele.

Spontan entscheide ich mich, die Kopfhörer nicht einzustöpseln, sondern Kurt Krömer´s lustiger Berliner Schnauze so zu lauschen. Andere Stimmen zu hören, tut gut und so beginnt die Phase der Podcasts. Ich höre mir verschiedene Episoden aus meiner Liste an und habe keine Lust auf Musik. Die Kilometer gehen gefühlt etwas schneller vorüber.

Bei Kilometer 43

Im Licht meiner Stirnlampe erkenne ich plötzlich, dass sich der Untergrund ändert. Ich hebe den Kopf. Das Meer aus Furchen ist verschwunden. Oh, meine Beine und Füße springen vor Freude. Endlich ist richtiges Laufen möglich, so wie ich es mir seit Stunden erhofft hatte. Wie mit einem Zusatzverstärker ausgerüstet laufe ich weiter und switche um auf meine Musik-Playlist. Nesh fährt wieder näher heran und reicht mir nochmal einen Schluck Cola.

Noch sieben Kilometer bis zur längeren Pause. Mohammed, der vorne fährt, macht einen müden Eindruck und fragt, wie viele Kilometer wir schon geschafft hätten. Er fährt die Route mit einer App ab und weist so den Weg. Laut meiner Uhr sind wir auch bis auf kleinere Abweichungen gut auf Kurs.

Für uns alle wird es nun schwerer. Die Quadfahrer fahren angepasst an mein Lauftempo und müssen sich auch bei Laune halten, keine leichte Angelegenheit, wach zu bleiben, gerade wenn sonst wenig Action ist. Manchmal müssen sie etwas schneller hin und her düsen, um wieder aus dem Trott zu kommen. Bald geschafft. Ich kann die Pause kaum abwarten.

Endlich doch etwas stehenbleiben, Kinesiotape auf die verärgerten Muskelpartien kleben, versuchen, nochmal mehr zu trinken als nur Cola und ein kurzes Video will ich auch drehen.

Ich hatte mir vorgenommen, alle 10 Kilometer ein kurzes Update zu machen und es als Video festzuhalten, um später noch besser nachvollziehen zu können, wie es mir erging, aber die Idee hatte ich schnell verworfen. Ich empfand es als lästig, das Handy zu zücken und schließlich kann Nesh das viel besser mit knipsen und filmen.

Ich hatte mich zu früh gefreut und nach nur etwa zwei bis drei Kilometern zeigten sich wieder diese unnachgiebig anmutenden Furchen, so weit das Auge reichte. Mit großer Wahrscheinlichkeit würde es bis zum Schluss so bleiben. Ich blickte darauf zurück, was ich schon geschafft hatte, bereits über die Hälfte der Distanz. Den Rest würde ich auch noch hinbekommen.

Pause bei Kilometer 50

Ich schummele etwas mit den Kilometern, als ich meinen treuen Begleitern bei km 48 bedeute, dass wir eine längere Pause machen. Ich weiß, dass längeres Stehen fatal für meinen Rhythmus ist und Sitzen der halbe Untergang wäre, und gar mehr nicht in die Puschen zu kommen, so dass ich die Hände kurz auf den Knien abstütze.

Wie herrlich kühl der Wind die ganze Nacht schon sanft ins Gesicht geweht hat!

Und plötzlich wird mir innerhalb von wenigen Minuten beinah kalt, hier mitten im Nichts, wo es tagsüber an die 50 Grad Bodentemperatur haben kann. Ein Zeichen von Dehydrierung, denn ich konnte in den letzten Stunden nur wenig Flüssigkeit aufnehmen.

Es ist kurz vor 4 Uhr morgens oder kurz nach vier Uhr. Nesh kramt einen Rucksack hervor und zieht die kleine Tasche mit den in weiser Voraussicht zurecht geschnittenen Kinesiotapestreifen. Ich habe das dringende Bedürfnis, die Innenseiten meiner Waden abzukleben, und wenn´s nur der Glaube an die Wirkung ist, warum nicht.

Alles, was jetzt hilft, um die Muskelschmerzen erträglicher zu machen, ist mir recht. Ich habe noch eine kleine Ibuprofen Tablette dabei, für alle Fälle, und sträube mich doch stets dagegen, ein Schmerzmittel einzuwerfen, wenn´s unbequem wird, empfinde das als eine Art Selbstbetrug, was es letztlich auch ist. Unwohlsein, Schmerzen, all das bucht man beim Ultralaufen freiwillig mit dazu und lasse die pinke Tablette weiterhin unangetastet.

Mohammed steht in Badelatschen vor seinem Quad und schneidet Schnitze aus der großen Honigmelone, reicht mir eine und schnell stürze ich mich auf die erfrischende Frucht. Sie ist mir zu warm zu essen und mir wird nach dem ersten Bissen schlecht.

Gerade noch so kann ich alles im Magen behalten und wechsle wieder zu Cola. Mit Tailwind habe ich aufgegeben. Lieber das, was jetzt gut funktioniert, weitermachen.

Ich bitte Nesh um ein kurzes Video, das ich im Status teilen möchte. Ich habe nun auch Netzempfang und die Lichter am Horizont scheinen nun auch in greifbarer Nähe zu sein. Ich fasele mehr als ich sprechen kann, wie in Zeitlupe, und merke, wie müde ich bin.

Noch 20 Kilometer laufen. Schon über zwei Drittel geschafft.

So viel, worauf ich bereits zurückblicken kann. Wenn jetzt alles gut geht, die Bänder und Muskeln noch etwas über zwei Stunden Stand halten, steht unserem Team-Erfolg nichts mehr im Wege.

Ich weiß nicht, wie lange die Pause schon dauert, vielleicht zwanzig Minuten. Es ist auch egal. Ich möchte weiterlaufen, jetzt, sofort, wieder in den Rhythmus kommen.

Setze mich langsam in Gang, einen Schritt vor den nächsten, und spüre, wie viel Kraft ich schon auf der Strecke gelassen habe. Die Waden brennen wie Hölle, auch die Knöchel müssen sich langsam wundern, was ihnen hier widerfährt.

Die Außenbänder der Oberschenkel sind wieder wie ein straffes Gummiband auf Hochspannung gezogen. Ich mache mir keine Illusion, dass die Strecke leichter wird und tue mir für einen kurzen Moment selbst ein bisschen leid.

Entgegen so vieler Floskeln und Worthülsen, die mir vor allem auf den sozialen Medien immer wieder unterkommen, habe ich nie das Gefühl, beim Ultralaufen gegen etwas oder gegen mich zu kämpfen. Das würde nur zusätzlichen Widerstand zu der ohnehin schon fordernden Aufgabe erzeugen und den kann ich gar nicht gebrauchen.

Ich finde in eine Einheit mit mir, laufe im Strom dessen, was ich vor und in mir habe und noch aus mir herausholen kann.

Im Licht des Mondes

Und da geht noch was. Ich stelle wieder die Musik-Playlist an und lasse mich mit der Melodie treiben. Nesh fährt mit etwas Abstand, ich hatte ihn darum gebeten, etwas Raum zu brauchen, was im Rückblick eine irrwitzige Aussage ist, denn hier ist ja alles Raum.

Mehr Raum als hier kann man kaum erfahren, nichts steht im Weg, nichts ist verbaut, nichts ragt plötzlich aus der Erde gen Himmel. Aber ich muss kurz allein vor mich hin grummeln, die kleinen Tiefs für mich verarbeiten und lieber nichts laut aussprechen.

Kilometer 53

Kurz vor 6 Uhr ist Sonnenaufgang. Und ich male mir aus, dass es weit vorher schon etwas hell werden müsste, stelle mich auf eine weitere Stunde laufen im Dunkeln ein. Der Mond begleitet uns weiterhin von seitlich links.

Und zunehmend sehe ich immer schwieriger und erkenne kaum noch die Bodenbeschaffenheit. Die Stirnlampe gibt langsam den Geist auf. Statt nach der Ersatzlampe zu wühlen, tausche ich kurzum meine mit der des anderen Fahrers neben Nesh.

Nesh´s Lampe ist viel zu klobig und schwer, es geht ja nur noch um etwa eine Dreiviertelstunde bis Stunde, bevor der neue Tag anbrechen würde. Das motiviert mich. Schnell noch ein paar Schlucke Wasser trinken und noch etwa zwei kurze Stopps, um mir ein paar Schlucke Cola einzuflößen. Dann käme ich gut durch.

Egal, was in dem Zeug drin ist, es wirkt. Und wenn wirklich nichts mehr geht, konnte ich mich bisher immer noch auf Cola verlassen, so auch bei diesem Ultra.

Ich denke nun nur noch bis km 65.

Ultralaufen. Auch ein ständiger Versuch, sich es im Kopf leichter zu machen, mit kleinen Tricks, Spielchen. Lernen, sich selbst zu unterhalten, neue Wege und Lösungen zu finden. Noch 17 Kilometer auf diesem höllisch schweren Boden laufen?

Puh, wie soll ich das packen?

Komm´, bis km 60 schaffst du´s locker und dann sind es nur noch fünf.

Genauso teile ich mir Ultras oft ein. Ich beziehe die letzten paar Kilometer gar nicht mit ein, mache mir den Berg selbst etwas kleiner. Und den letzten Rest packt man dann auch noch obendrauf, das ist dann nur noch Augen zu und durch.

Ungeduldig blicke ich in den Himmel. Immer noch ist es recht dunkel, auch wenn der Mondschein eine Illusion von Helligkeit erzeugt. Kein Tag in Sicht. Ich erinnere mich kurz an ein paar Nächte, die ich im Rahmen anderer Ultramarathons durchgelaufen bin und war stets heilfroh, dass nach wenigen Stunden wieder ein neuer Tag heranbrach.

Doch hier, im Nichts, ist alles anders. Die Nacht hält sich hartnäckig. Ich trage nun seit fast acht Stunden durchgehend die Lampe auf dem Kopf und habe genug. Wenigstens zehn Kilometer wollte ich noch bei Tageslicht bis ins Ziel laufen. Daraus wird nun nichts.

Kilometer 63

Es ist vollbracht. Ich habe fast die magische Schwelle bei Kilometer 65 erreicht. Das Ziel Tozeur liegt unmittelbar vor uns. Mit Nesh´s immer wieder aufmunternden Worten, Gedanken ans Ziel, die ich begonnen hatte, langsam zuzulassen, gelingt es mir dranzubleiben, nicht ins Gehen zu fallen.

Eine dünne Linie, die den Anbruch des neuen Tages andeutet, zeichnet sich am Horizont an. Nacht und Tag wechseln sich gleich ab. Ich bekomme Gänsehaut. Endlich! Ich rupfe mir die Stirnlampe vom Kopf, drehe mich um, wende mich dann einmal um meine eigene Achse und strecke die Arme gen Himmel. Dieser Augenblick ist magisch. Ich bleibe kurz stehen und blicke nochmal zurück in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Was für eine unfassbare Weite!

Es ist schwer, einen Sinn für die Richtung zu begreifen, überhaupt das bisher Geschaffte zu verstehen. Es ist erlebbar. Eine große Genugtuung breitet sich in mir aus. Ich kämpfe mit den Tränen und in diesem Augenblick fährt Nesh nah an mich heran, redet mir gut zu, gleich hast du es geschafft, du machst das super, und mir kullern die Tränen über die Wangen.

Der vielleicht intimste, schönste Moment, den nur wir zwei gemeinsam teilen und uns lange in unsere Erinnerung einfräst. Der dritte Begleiter fährt mit mehr Abstand hinter uns und bekommt die Magie des Tagesanbruchs vielleicht auch auf seine eigene Art und Weise zu spüren.

Schnell trockne ich die Tränen und sehe, dass uns Miloud entgegenkommt. Ich erkenne auch mit etwas Mühe andere Fahrzeuge. Sarah muss irgendwo dabei sein und ich kann es kaum erwarten, ihr in die Arme zu laufen.

Wow, ich realisiere langsam, dass jetzt wirklich nichts mehr zwischen dem Gelingen dieses Projekts steht.

Nichts.

Es ist getan. Gleichzeitig zu dem Gefühl, endlich ankommen zu wollen, hängt sich der Gedanke, wie schnell doch alles vorüber ist. Einmal durch die Nacht, zack, und plötzlich werden wir am anderen Ende herausgespült.

Das sind die zwei Seiten der Medaille eines Ultramarathons. Manchmal sehnt man sich wie nichts mehr in der Welt das Ende, das Ziel herbei, um im selben Moment zu merken, wie schnell der Schmerz verfliegen kann, und man sich denkt: Schade, dass es schon zu Ende ist.

Doch was ist schon das Ende?

Miloud kommt näher, fährt eine Weile neben mir her und erkundigt sich nach meinem Befinden. Er fragt mich auch, wie weit ich noch laufen möchte. Die Route musste ein paar Kilometer weiter nach Norden umgeleitet werden, aufgrund von Bodenfeuchtigkeit und Gefahr von Einsinken, was Mohammed nach Miloud´s Anweisung gut umgesetzt hat, denn wir hatten nie Probleme mit einem zu feuchten oder gar nassen Boden.

Bei Kilometer 66 km entscheide ich, dass noch nicht Schluss ist, obwohl schon die Fahrzeuge der Garde Nationale und ein Pick-up bereitstehen.

Und dann steht da plötzlich Sarah, feuert mich an, redet mir gut zu. Es tut so gut, sie zu sehen, ihre Energie und grenzenlose Unterstützung zu fühlen.

Noch 2 Kilometer möchte ich laufen, um offiziell näher an den 70 Kilometern zu sein als an 65. Da geht es schon ein wenig mit mir durch, meinem eingebauten Ehrgeiz und ich werde pingelig.

Wegen ein bis zwei Kilometern schere ich mich nicht, aber ganze vier oder fünf unter dem angepeilten Ziel wären nicht zufriedenstellend. Schließlich möchte ich möglichst genau Amir´s Route folgen, dessen Originalstrecke es auf 70 Kilometer brachte.

Ich erblicke den Rand einer Oase und werde auf diesen zwei Kilometern nicht nur von meinen treuen Begleitern eskortiert, sondern auch vom Chef der Garde National persönlich, einem weiteren Polizisten, einem kleinen TV-Team, Sarah, dem Quad-Team und einigen anderen Leuten.

Auf ins Ziel

Ich nehme nicht mehr viel wahr, habe seit der letzten großen Pause noch einmal mehr in die Tiefen meines Kopfes greifen müssen, um Lösungen zu finden und den Fokus immer wieder auf das, was schön ist, was läuft, zu richten. In der Nacht wie auch mit Tagesanbruch gab es magische Momente.

Solche, die so banal sind und doch so schön, dass man sich fast kneifen müsste, um sich daran zu erinnern, dass alles real ist, wirklich erlebt ist. Und dass diese Momente nicht nur mir gehören, sondern allen Beteiligten, macht es noch wertvoller. Von schönen Momenten lässt sich lange zehren, und wenn dann noch etwas Anstrengung mit dabei war, fühlt es sich gleich noch bedeutender an.

Erst beim Blick auf die Auswertung in meiner Uhr werde ich später feststellen können, dass ich pulsmässig 98% der Zeit in der Erholungszone unterwegs war.

Dienstag, 29. August, 6:14 Uhr

Getragen von so viel Wohlwollen, meinem Rhythmus, dem absehbaren Ende dieses Ritts bewege ich mich weiter vorwärts. Und dann steht da wieder Sarra. Nach knapp 68 Kilometern falle ich ihr in die Arme, die Tränen fließen, sie gratuliert mir überschwänglich, drückt mich fest, wir fallen fast um und dass das Filmteam ganz nah um uns herumsteht, ist mir so egal, wie wenn in China in Reissack umfällt.

Ich spüre echte Erleichterung, echte Freude und eine Genugtuung, wie ich sie nur von Ultraläufen kenne. Ein Gefühl, das sich einstellt, wenn man etwas geschafft hat, den Weg gelaufen ist, den man sich vorgenommen hat. Und die Hürden auf dem Weg manchmal mehr schlecht als recht überwinden konnte. Selten gibt es keinen Ausweg mehr.

Nesh blickt mich ungeduldig an und als ich mich aus Sarra´s Armen löse, ist er dran. Viel Zeit für Worte ist nicht, die Kameraleute wollen direkt ein Interview. Ich hatte mir nicht erhofft oder erdacht, dass das Event so viel Trubel verursachen würde.

Das können die Tunesier, Menschen feiern, sich mitreißen und anstecken lassen von etwas, dass mitunter etwas außerirdisch ist. So wie diese verrückte Europäerin, die nichts Besseres zu tun hat, als nachts übers Chott zu laufen.

In Deutschland kräht kein Hahn danach. Muss er auch nicht. Ich habe für mich selbst etwas erreicht, was ich vor einigen Monaten noch für undenkbar gehalten habe und erst dem zweiten Impuls gefolgt bin. Machen statt reden.

Innerhalb von sechs Wochen konnte dies alles realisiert werden und pffff, ist es schon vorbei. Fast.

Das Interview verläuft holprig. Auf Englisch. Ich stammle irgendwas zusammen. Anschließend wird Nesh noch befragt und in seiner typisch ungezwungenen Art erzählt er über eine Minute lang von dieser aufregenden Nacht, auf Arabisch.

Dann geht alles schnell.

Ich ziehe mir die Schuhe von den Füßen. Endlich Luft, endlich die Erde spüren und tipple zur Gruppe, schlüpfe in die Badelatschen und cheese, wird ein Gruppenfoto gemacht.

Mit leichtem Wehklagen ziehe ich mich auf den Rücksitz des Pick-Ups der Garde National. Die Außenbänder meiner Oberschenkel sind kurz vorm Überspannen. Wie soll ich aus diesem Auto jemals wieder aussteigen?

Bewegungslos sitze ich da, blicke aus dem Fenster, lausche dem Gemurmel der drei Männer, bis wir endlich am Hotel ankommen. Der Polizist hält direkt vor der langen Eingangstreppe. Nesh öffnet mir die Tür. Mit Ach und Krach ziehe ich mich aus dem Auto hoch in die Vertikale und setze die Füße auf.

Autsch, tut das weh. Das kann dauern, bis wir im Hotelzimmer ankommen.

Wir bedanken uns bei der Garde Nationale für die zuverlässige Unterstützung. Im Schneckentempo schlurfe ich auf Nesh gestützt in die Lobby. Die Damen am Empfang scheinen etwas überrascht zu sein, als sie uns sehen. Endlich stehen wir am Lift und öffnen wenige Minuten später die Tür zum Zimmer.

Ich lasse alles fallen, freue mich so sehr wie nichts anderes in der Welt auf eine Dusche und stürze mich zuerst auf die noch übriggebliebenen Kartoffeln vom Vortag. Ich bin erst mal durch mit dem ganzen süßen Zeug. Und falle eine gute Stunde später für wenigstens zwei Stunden in einen leichten Schlaf.

So viele Bilder und Eindrücke schwirren in meinem Kopf, so, als wäre ich immer noch auf dem Salzsee und nicht in dem kuscheligen Hotelbett. Als ich aufstehe, um das Zimmer langsam zu räumen, merke ich, dass meine Bänder noch intakt sind. Die Spannung versiegt langsam. Die Zeit der Erholung hat begonnen.

Abschließend noch die Auswertung des Solocrossings.

DANKE an Amir Ben-Gacem , Riadh Dekhili, Andrea Philippi, Discover Tunisia, The North Face, Sahara Quads, Magic Hotels, Jonas und Florian, Sporthunger.de, allen Unterstützern des Crowdfundings sowie Freunden und Familie.

6 Wochen später

Hat sich etwas verändert?

Was macht so ein Ultra mit uns?

Heißt es nicht immer, es gibt einen Transfer vom Sport ins wahre Leben?

Ich halte mich fern von Versuchen, diesem Lauf eine ganz tiefe Bedeutung zuzusprechen. An erster Stelle stand für mich, mich einer sportlichen Herausforderung zu stellen, etwas zu schaffen, was keiner anderen Frau vorher gelungen ist.

Das Laufen als Kanal zu nutzen, herauszufinden, wohin mich meine Beine und mein Geist tragen können. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, auf einem Terrain zu laufen, dass kein Lebewesen zulässt.

Gibt es auch einen leichteren Weg, sich zu entwickeln, den Horizont zu erweitern? Muss es immer der Weg außerhalb der viel besprochenen Komfortzone sein?

Sicherlich gibt es andere Möglichkeiten, etwas zu wagen, von dem man kaum glaubte, dass es möglich ist. Der Sport ist nur einer von vielen Kanälen dafür. Zeit meines Lebens ist Laufen das Element, durch das ich mich lebendig fühle.

Laufen gibt mir einen Sinn. Ich gebe Energie hinein und bekomme unmittelbar oft so viel mehr zurück, ganz direkt. Es ist völlig unbedeutend für viele Menschen, so auch das Salzsee-Projekt. Es macht die Welt nicht besser, die Menschen nicht klüger.

Aber wenn es etwas im übertragenen Sinn tun kann, so hoffe ich, dass sich zumindest der ein oder andere Leser aufgerufen fühlt, die Beine in die Hand zu nehmen und nicht zu warten.

Ich habe mich während der über acht Stunden da draußen immer in der Komfortzone bewegen müssen. Ein Funken Übermut, das bisschen mehr Pushen aus falschem Ehrgeiz hätte fatal enden können. Es gilt also, es sich möglichst lang so komfortabel wie möglich zu machen.

Im Alltag stelle ich fest, dass ich noch entscheidungssicherer bin, meine Bedürfnisse besser äußern und glasklar definieren kann, was ich will und was nicht. Ich habe ein Stückchen mehr an Aufrichtigkeit mir selbst gegenüber gewonnen und habe große Lust, noch mehr solcher Projekte ins Leben zu rufen.

Vor Kurzem erhielt ich von einer tunesischen Ultraläuferin, die ich persönlich kenne, eine Nachricht. Darin gratulierte sie mir zu meinem erfolgreichen Projekt und dass sie seit 4 Jahren vorhatte, das Solo zu wagen. Sie hatte vor, sogar mit einer anderen deutschen Ultraläuferin, die ich auch kenne, die Traverse zu probieren.  

Woran es gescheitert war, fragte ich.

Sie hatte sich abhängig von der Antwort einiger Leute gemacht, die sie in ihr Vorhaben eingeweiht hatte. Und gewartet. Nichts passierte und sie gab auf.

Es stimmte mich etwas traurig, dass sie so lange dieses Ziel vor Augen hatte. Und nun jemand anders, ich, den Schritt vorausgegangen war.

Der Unterschied liegt immer im Handeln, im Tatendrang.

Ich bot ihr an, ihr bei der Umsetzung zu helfen, sollte sie dennoch einen Versuch über den Salzsee wagen wollen und ihr mit Tipps und Rat zur Seite zur stehen, sollte sie diese benötigen. Nur weil jemand vorausgegangen ist, nimmt das anderen nicht zwingend die Neugier und die Faszination, es auch zu wagen.

Hauptsache man tut es, geht den ersten Schritt, dann den zweiten. Alle Ressourcen sind schon da.

Nachtrag

In der schnelllebigen Welt vor allem auf den sozialen Medien ist man schnell dazu geneigt - und da schließe ich mich auch mit ein - das Erlebte, Geschaffte, Erreichte möglichst sofort überall mit der Welt zu teilen.

Ich habe es bisher so gemacht, gerade nach spannenden Läufen, einen Podcast aufzunehmen und oft hinterher gedacht, hätte ich noch etwas gewartet und alles mehr sacken lassen. Oft habe ich wichtige Aspekte vergessen zu erwähnen, die mir erst später wieder einfielen.

Die Zeit nach einem Ultramarathon birgt nicht zuletzt auch einige Herausforderungen, wenn man wieder im normalen Alltag landen muss, sich sortiert, versucht, das Erlebte einzuordnen. Dazu kommt oft eine Müdigkeit, die durchaus ein bis zwei Wochen anhalten kann, sowohl mental als auch körperlich.

Eine weitere unangenehme Nachwehe kann sein, dass das Immunsystem schwächelt und man krank wird oder auch nur vor sich hin kränkelt und im Grunde nur seine Ruhe möchte, sobald sich die erste Euphorie gelegt hat.

Es gibt im Ultralaufen das Davor, Während und Danach.

Diesmal habe ich entschieden, das Danach genauso wertzuschätzen wie die anderen Aspekte und alles in Ruhe zu verdauen.

Ich glaube fest daran, dass es besser für einen selbst ist, ein Stück weit große, gemeisterte Herausforderungen eine Weile zu konservieren, bevor man es nach außen kehrt. Die Anerkennung für etwas Geschafftes liegt zunächst immer im Inneren.

Ich freue mich, wenn Menschen für sich etwas daraus mitnehmen, woraus ich einen Sinn für mein Dasein auf diesem Planeten schöpfe und wenn sie es nicht tun, ist das genauso ok.

Ich biete mit dem, was ich sportlich tue, an, einen neuen Blick auf die Dinge zu erlangen und sich ein Stückchen über den eigenen Tellerrand zu bewegen, denn dort passieren immer wieder spannende Dinge, die man gar nicht sehen kann, wenn man sich stets in der immer gleichen Blase dreht.

Laufen schafft eine Möglichkeit, das Leben und sich selbst in einem anderen Licht zu erkennen.

Mein Credo zum Verfassen dieses Berichts war auch, Dinge anders zu machen und zu schauen was passiert. Die vergangenen sechs Wochen seit meinem erfolgreichen Solo vergingen wie im Flug. Wir hatten viel Besuch, einiges an Arbeit, Dinge zu organisieren, eben das ganz normale Leben weiterzuführen.

Ich habe fast vier Wochen gebraucht, um diesen Bericht zu verfassen.

Manchmal schrieb ich tausende Wörter am Stück und manchmal ein paar Tage lang gar nichts, in anderen Momenten nur ein paar Sätze, um dann leicht frustriert festzustellen: heute wird das nichts.

Erst jetzt merke ich, wie mich der Lauf durchdringt und ich erinnere mich an fast jedes Detail von Anfang bis Ende. Ich hoffe, dass du als Leser das Aufgeschriebene nachvollziehen kannst, dass die Zusammenhänge erkenn- und erlebbar sind und vielleicht zu einem gewissen Tatendrang bei dir selbst führen.

Dinge müssen nur für dich einen Sinn ergeben, nicht für andere. Besonders im Tun, also dann, wenn du dich entscheidest, dich auf den Weg zu machen.

Ich wünsche dir, dass du die ein oder andere verrückte Idee in die Tat umsetzen kannst.

Wenn du Fragen hast, ob nun zum Solocrossing oder zu einem anderen Thema, das mit dem Laufen zusammenhängt, kontaktiere mich gern. Ich freue mich, dir vielleicht weiterhelfen zu können.


Run happy. Be happy.

Deine Anna

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